Gefangene Seele
spürte, dass es die Arme eines Mannes waren, und wollte zurückschrecken, aber mit seiner Hand presste er ihren Kopf an seine Brust. Bevor sie Zeit hatte, sich zu überlegen, wie sie die drohende Panik abwenden konnte, erkannte sie Lukes Stimme.
“Ach, Jade. Jade. Es tut mir so leid.”
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen bösen Traum verjagen, und sah auf. Die Verzweiflung in ihrem Gesicht erschütterte ihn.
“Du scheinst immer die Antwort zu kennen, Luke Kelly, dann sag mir doch mal eines: Raphael hat sein Leben lang niemandem etwas zuleide getan, warum muss er also jetzt so leiden?”
“Ich habe nicht behauptet, dass ich die Antwort auf alles weiß”, sagte er. Als sie sich von ihm löste, reichte er ihr ein Taschentuch.
“Ich habe mein Leben lang gelernt, dass Gott uns nie mehr aufbürdet, als wir ertragen können, also muss er wohl denken, dass du ein sehr starker Mensch bist.”
Jade trocknete sich mit dem Taschentuch die Tränen ab, dann legte sie es mit einer wütenden Gebärde zurück in seine offene Hand.
“Es gibt keinen Gott.”
Luke erschauderte. “Doch, es gibt ihn.”
Sie lachte, aber es klang wie ein hartes, ärgerliches Bellen.
“Dann muss er mich hassen, weil mein Leben eine einzige Hölle gewesen ist.”
“Denkst du niemals darüber nach, dass es die Menschen waren, die die Hölle gemacht haben, und dass du es Gott zu verdanken hast, dass du noch am Leben bist?”
Einen Augenblick lang sah Jade ihn ausdruckslos an. Er beobachtete, wie ihre Pupillen größer wurden und ihre Kinnlade ein wenig nach unten fiel, als sie aufnahm, was er gerade gesagt hatte. Dann legte er die Hand an ihre Wange.
“Jade.”
Sie zuckte zusammen und blinzelte.
“Was?”
Sam hatte Luke erzählt, dass sie weder ausreichend aß, noch genug Schlaf bekam. Das war einer der Gründe, warum er gekommen war. Er wollte sich nicht auf Kosten anderer ausruhen.
“Möchtest du etwas essen?”
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. “Ich wollte mir gerade eine Suppe holen.”
Er streckte ihr seine Hand hin: “Darf ich mitkommen?”
Sie antwortete nicht.
“Ich bezahle auch”, fügte er hinzu.
Sie blinzelte wieder und lächelte fast.
“Meinetwegen”, antwortete sie und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Dann ging sie die Stufen hinunter und wartete nicht auf Luke.
11. KAPITEL
E inige Tage später wachte Raphael auf, als seine Krankenschwester gerade dabei war, mit einer Spritze Schmerzmittel in den Beutel mit seiner Infusionsflüssigkeit zu füllen. Er blinzelte und versuchte, mit den Augen seine Umgebung zu fokussieren, dann griff er unbeholfen nach ihrem Arm.
“Was … was … machen Sie?”, murmelte er.
“Ich sorge nur dafür, dass es Ihnen ein wenig besser geht.”
“Nein”, sagte er, “… aufhören.”
Sie runzelte die Stirn, weil sie sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
“Sir, ich glaube, Sie verstehen nicht recht. Ohne dieses Medikament werden Sie die Schmerzen kaum ertragen können.”
“Nein. Ich schlafe davon. Ich kann nicht denken”, antwortete er.
Vorsichtig berührte sie seinen Arm, dann entfernte sie die Spritze, verschloss die Kanüle mit einem Deckel und tat sie in ihre Kitteltasche. Sie war damit beauftragt worden, das Schmerzmittel zu der Infusion hinzuzufügen, aber sie konnte den Wunsch ihres Patienten auch nicht einfach ignorieren. Sie musste mit dem zuständigen Arzt sprechen.
“Entspannen Sie sich, Sir. Ich bin gleich wieder zurück.”
“Ich will erst einmal keine Schmerzmittel mehr haben”, wiederholte Raphael noch einmal. Dann atmete er langsam aus, das Sprechen hatte ihn angestrengt.
Sobald die Frau das Zimmer verlassen hatte, schloss er die Augen und ließ seine Gedanken wandern. Er versuchte, sich auf Jade zu konzentrieren, aber sein Körper ließ das nicht zu. Es lag an dieser verdammten Medizin. Er musste einen klaren Kopf behalten. Er musste noch etwas mitteilen – sowohl Jade als auch ihrem Vater, und auch Luke Kelly. Wenn sie ihn nicht verstehen könnten, dann könnten sie Jade auch nicht wirklich helfen, und sie brauchte Hilfe. Aber mehr noch brauchte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein und geliebt zu werden.
Schmerz breitete sich in seinem Bauch aus. Raphael legte seine Hand auf den Bauch, als wolle er den Teufel, der dort drinnen wütete, zur Ruhe bringen. Er brauchte Zeit, um noch etwas Wichtiges zu erledigen. Aber seine Zeit wurde knapp.
Er hörte die Tür aufgehen und öffnete die
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