Gefangene Seele
ja gar nicht, dass das leicht für dich ist, aber du musst auch verstehen, dass, obwohl ich dich erst sehr kurz kenne, ich dich wirklich bewundere.”
Jade versuchte nicht, ihre Überraschung zu verbergen. “Du bewunderst mich? Warum solltest du mich bewundern? Da gibt es nichts zu bewundern.”
“Ich darf dir wohl widersprechen”, sagte er gestelzt. “Ohne dass ich nähere Details kenne, nehme ich an, dass du eine schlimme Kindheit durchmachen musstest, und dennoch hast du es nicht nur geschafft, das zu überleben, sondern dem Ganzen auch noch zu entkommen.”
“Das lag an Raphael”, gab sie zurück.
Luke hatte den Impuls, eine Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war, zurückzustreichen, aber er schaffte es, sich zurückzuhalten.
“Ja, Süße”, sagte er leise. “Es war wegen Raphael. Aber irgendwie hast du es ja geschafft, von der Straße wegzubleiben, wo das Schlimmste geschieht.”
Der Aufzug kam. Alle stiegen aus, sodass die beiden allein hinunterfuhren. Luke Kelly fragte sich, was er da jetzt gerade redete, aber Jade hatte auch nicht den Mut, ihn dafür zur Ordnung zu rufen. Aber wenn diese neue Phase in ihrem Leben eine Chance haben sollte, dann durfte sie nur auf Ehrlichkeit und Offenheit beruhen, nicht auf Lügen oder Geheimnissen. Sie sah kurz zu Luke hoch und bemerkte, dass er sie ansah.
“Gerade eben … hast du Raphael gesagt, dass du alles tun würdest, worum ich dich bitte.”
Lukes Herzschlag setzte kurz aus. “Ja, das war mein Ernst.”
“Vielleicht”, sagte sie. “Aber du weißt nicht alles über uns … und was wir in der Vergangenheit getan haben … zu was uns Solomon gezwungen hat.”
Plötzlich dämmerte Luke, worüber sie sprach und warum sie nachts Albträume hatte und im Schlaf schrie. Er hatte ein komisches Gefühl im Bauch.
Im ersten Stock hielt der Aufzug an, und zwei Leute stiegen ein und fuhren mit ihnen ins Erdgeschoss. Daher war Jade gezwungen, die Beichte ihrer Sünden, wie sie es sah, zu verschieben. Je länger sie warten musste, desto schwieriger war es für sie, den Mut dazu wieder aufzubringen.
In der Cafeteria stellte sie sich mit Luke in der Schlange an und wählte etwas zu essen aus, obwohl sie keinen Appetit hatte. Aber sie wusste, dass sie etwas zu sich nehmen musste, um zu überleben. Dann ging sie zu einem Tisch im hinteren Bereich des Saales, weil sie hoffte, dort ungestört den Rest ihrer Geschichte erzählen zu können, ohne unterbrochen zu werden.
Als sie sich setzten, klingelte Lukes Mobiltelefon. Er schaute auf die Nummer des Anrufers, dann schaltete er das Gerät ab.
“Ich ruf sie später an”, sagte er.
Jade fühlte sich schuldig. Der Mann hatte sein Geschäft, und nun saß sie hier und hielt ihn auf.
“Ist schon okay”, sagte sie. “Wenn du gehen musst, geh einfach und lass dich durch mich nicht aufhalten.”
“Ich muss nicht los. Und wenn es so wäre, dann würde ich es dir schon sagen. Außerdem ist es ja das Schöne daran, sein eigener Boss zu sein: Ich kann machen, was ich will, wann ich will.”
“Oh.” Sie nahm die Gabel und schob eine Bohne auf dem Teller herum, dann entsann sie sich, dass sie eine Serviette hatte, tat die Gabel zur Seite und legte sich die Papierserviette auf den Schoß. “Verzeihung. Ich hatte nicht allzu viel Gelegenheit, meine Manieren zu trainieren.”
Luke grinste erschöpft. “Jade … Süße … im Großen und Ganzen betrachtet … was glaubst du, wie wichtig Tischmanieren sind?”
Sie hielt inne, dann stieß sie einen Seufzer aus. “Ich entschuldige mich schon wieder, nicht wahr?”
Sie starrte auf ihren Teller herab und betrachtete versonnen den grünen Saft, der aus der Bohne quoll. Dann sah sie auf. “Verdammt Luke, verstehst du das denn nicht?”
Er runzelte die Stirn. “Was?”
“Wie viele Mängel ich habe?”
“Hat dir nie jemand gesagt, dass es niemanden gibt, der perfekt ist?”
“Hör auf, Witze zu machen. Es ist mir ernst.”
“Dann musst du es mir erklären”, sagte Luke.
Ihre Stimme zitterte. “Es ist nicht schön. Sam wird sich für mich schämen. Du wirst danach nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.”
“Nein, Jade. Das wird nicht passieren.”
“Das weißt du doch gar nicht.”
“Dann sag mir doch, was los ist”, bat er sie leise.
Er legte seine Hand auf ihre, obwohl ihm klar war, dass sie sich dagegen wehren würde. Doch zu seiner Überraschung zog sie ihre Hand nicht fort.
Sie sah sich über die Schulter, um sicherzugehen, dass ihnen niemand
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