Gefangene Seele
Kind und wollte, dass ich ihn Onkel Frank nenne. Aber es war schon länger her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte … vielleicht sechs Monate. Solomon veranstaltete immer ein großes Fest für die ganze Gruppe, wenn ein Jahr vorübergegangen war. Daher erinnere ich mich daran, dass er mir sagte, es sei mein achtes Jahr bei den People, also muss ich so um die zwölf Jahre alt gewesen sein. Na, jedenfalls, mein Körper hatte sich verändert. Ich sah nicht mehr aus wie ein kleines Mädchen, und als der Onkel mich auszog, wurde er böse. Als ich ihm sagte, dass ich ja nichts dafür könne, schlug er mich und sagte, ich solle den Mund halten. Das tat ich dann.”
Jade nahm es selbst nicht wahr, aber sie hatte angefangen, auf dem Stuhl vor und zurück zu wippen, sodass ihr Oberkörper zwischen Stuhllehne und Tischplatte schwang. Luke kannte das. Er hatte häufiger Leute gesehen, die ein emotionales Trauma hinter sich hatten und so reagierten.
Dann sah Jade Luke wieder an und versuchte zu erraten, was in ihm vorging. Sie sah nichts, außer dass ihm weiter die Tränen über die Wangen liefen.
“Also, wie gesagt, ich hielt meinen Mund. Aber er kriegte … also, ich machte ihn nicht länger an. Er ließ seine Erniedrigung und seine Wut an mir aus. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er mich mit etwas schnitt, aber danach war ich weg und bekam nichts mehr mit. Raphael erzählte, dass man meine Schreie im ganzen Haus gehört hätte. Mit fünfzehn war Raphael recht groß für sein Alter. Er kam als Erster ins Zimmer und hätte den Mann fast totgeprügelt. Dann kam Solomon hinein. Er befahl Raphael, mich aus dem Zimmer zu schaffen. Raphael ging auf ihn los, trug mich dann aber aus dem Haus. Er stahl einen der Wagen von den People. Und seitdem sind wir auf der Flucht.”
Jade hörte auf zu erzählen. Auch ihr Körper war plötzlich vollkommen ruhig. Sie sah Luke direkt an, um seine Reaktion abschätzen zu können.
“So, jetzt weißt du alles … willst du immer noch mit mir befreundet sein?”
Ihre Stimme zitterte, was die Bedeutsamkeit ihrer Frage noch größer machte. Luke lehnte sich vor, denn er wollte sie berühren, um seine Antwort zu unterstreichen. Aber stattdessen legte er nur seine Hand mit der Fläche nach oben auf den Tisch.
“Ich habe es dir doch schon gesagt”, antwortete er leise. “Ich werde der Mensch für dich sein, den du brauchst.”
Jade starrte ihn eine Weile schweigend an, dann sah sie hinab auf seine Hand. Sie war breit und in der Nähe der Daumenwurzel befand sich eine kleine Narbe. Wenn er eine Faust machen würde, wäre sie groß – fast riesig. Normalerweise hätte sie Angst gehabt, ihn zu berühren, aber eine Stimme in ihrem Innersten sagte ihr, dass sie es ruhig tun könne.
Schließlich nahm sie ihre rechte Hand vom Schoß und legte sie in seine Handfläche. Sie spürte die Wärme und die Kraft, die von dieser Hand ausging. Und als sich seine Finger um ihre schlossen, zuckte sie kaum wahrnehmbar. Als sie anfing zu sprechen, war ihre Stimme so leise, dass sich Luke vorlehnen musste, um sie zu verstehen.
“Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann.”
“Vertraue mir.”
Endlich nickte sie. “Wirst du es Sam erzählen?”, fragte sie.
“Möchtest du, dass ich es tue?”
“Ich weiß es nicht. Lass mich darüber nachdenken, okay?”
“Sag mir Bescheid”, sagte Luke, “aber vergiss nicht, was ich dir schon gesagt habe. Dein Vater ist überglücklich, dass er dich gefunden hat. Alles andere ist ihm egal.”
Sie nickte. “Wenn ich dich etwas frage, wirst du mir versprechen, dass du mir die Wahrheit sagst?”
“Ja.”
“Jetzt, da ich dir alles erzählt habe … was denkst du darüber?”
“Ich glaube, wenn mir dieser Perverse, der sich Solomon nennt, jemals in die Hände fallen sollte, dann werde ich ihn umbringen.”
Seltsamerweise beruhigte Jade diese emotionale Antwort, obwohl sie nicht sagen konnte, woran das lag. In den letzten Jahren hatte sie den Wunsch nach irgendeiner Vergeltung unterdrückt.
Dieser Luke Kelly spiegelte ihre Gefühle in einer Art und Weise wider, die sie nicht erwartet hatte.
“Gut”, sagte sie und warf dann einen Blick auf ihren Teller. “Das Essen wird kalt.”
Sie hatte das Gefühl, dass sie das Thema wechseln musste. Luke war es auch recht. Er sah auf seine eigene Mahlzeit hinunter, die schon zum Teil kalt auf dem Porzellan dalag, und griff zu seiner Gabel.
“Sieht ganz in Ordnung aus, finde ich”, sagte er und zwang
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