Gefangene Seele
Aber als sie ausstieg, sträubten sich ihre Nackenhaare. Sie drehte sich abrupt um, weil sie dachte, direkt hinter ihr stünde jemand mit einer Kamera. Aber alles schien wie immer zu sein.
“Ist was?”, fragte Sam.
“Ich weiß es nicht”, antwortete Jade. “Ich hatte nur gerade das Gefühl, dass uns jemand beobachtet.”
Sam schnaufte durch die Nase. “Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir tatsächlich beobachtet werden. Diese verdammten Reporter haben ja heutzutage alle möglichen Geräte, mit denen sie einen ausspionieren können. Teleobjektive und so weiter. Komm mit, Kleines, denk nicht weiter darüber nach.”
Jade befolgte Sams Rat und eilte hinter ihm ins Haus. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, verschwand dieses Gefühl. Sam musste also recht haben.
“Was wolltest du mir zeigen?”, erinnerte sie Sam.
Er nahm sie bei der Hand. “Es ist oben.”
Sam führte sie die Treppe hoch, dann in einen Teil des Hauses, den sie noch nicht kannte.
“Was ist denn hier?”, fragte sie ihn, während sie einen langen Flur hinabgingen.
“Das ist der Familienflügel”, antwortete er. “Hier ist mein Schlafzimmer.” Er hielt vor einer Tür an und stieß sie auf. “Das hier war früher dein Zimmer.”
Jade hielt die Luft an. “Warum hast du mir das nicht früher gezeigt?”
Er runzelte die Stirn. “Zu Anfang hatte ich den Eindruck, dass es dir gar nicht recht war, hier zu sein. Ich wollte nicht, dass du glaubst, ich würde dich zwingen, dich zu erinnern, wenn du es nicht willst.”
“Das tut mir leid”, sagte Jade. “Darf ich hineingehen?”
“Deswegen zeige ich dir ja das Zimmer”, antwortete Sam und ging einen Schritt zur Seite.
Als Jade den Raum betrat, überkam sie sofort das Gefühl, sie würde ein Museum betreten. Das Mobiliar war offensichtlich für ein kleines Mädchen bestimmt – es gab ein Himmelbett mit weißen und rosafarbenen Vorhängen. Die Bilder an den Wänden stellten Winnie the Pooh dar und auf dem Bett saß eine Puppe, die aus Stoffresten genäht war.
Jade nahm die Puppe und fuhr mit ihren Fingern durch das Bindfaden-Haar, dann presste sie sie an ihr Gesicht. Sie roch nach Möbelpolitur, ein wenig nach Lavendel und einfach nach Staub.
“Du hast hier gar nichts verändert, nicht wahr?”
“Nein.”
“Warum? Es ist zwanzig Jahre her. Worauf hast du gewartet?”
Sam seufzte, dann legte er kurz seine Hand auf ihren Hinterkopf. “Ich weiß es nicht. Ich nehme an … ich habe an ein Wunder geglaubt. Aber eigentlich wollte ich dir gar nicht dieses Zimmer zeigen, sondern etwas anderes.” Er ging zu einer Truhe aus Zedernholz und öffnete den Deckel. Als er sich umdrehte, hielt er etwas Rosafarbenes in der Hand. “Deine Decke. Du konntest ohne sie nicht einschlafen.”
Jade nahm sie ihm aus der Hand. Der Flanellstoff war sehr weich. Die Decke roch nach Zeder.
“Früher roch sie nach Rosen. Warum?”
Sam setzte sich auf die Bettkante, weil er plötzlich das Gefühl hatte, seine Beine würden ihn nicht mehr tragen.
“Ach du lieber Gott, auch daran erinnerst du dich?” Er sah zu ihr auf. “Es roch nach Rosen, weil das Lieblingsparfum von deiner Mutter danach roch. Es hieß Roses. Du hast sie immer darum gebeten, ein wenig auf deine Kuscheldecke zu sprühen. Auf dein Lovey.” Er deutete auf die Decke. “So hast du sie genannt.”
Lovey.
Sie setzte sich neben Sam aufs Bett. Als sie das tat, spürte sie so etwas wie inneren Frieden. Eine lange, lange Zeit hatte sie kein Zuhause gehabt, oder sie hatte sich für niemanden interessiert, außer für Raphael. Aber seitdem sie wieder hier war, war in ihr eine Kettenreaktion an Erinnerungen ausgelöst worden. Erinnerungen, die sie daran gemahnten, wohin sie gehörte – hierher und zu Sam.
Jade seufzte und zog die Decke langsam an ihr Kinn, und ohne Sam dabei anzusehen, lehnte sie sich an seine Schulter.
Es war keine bedeutende Geste, aber für Sam war diese kleine Bewegung der Beweis, dass Wunder wahr werden konnten.
“Wie wäre es, wenn ich Velma bitte, uns Frühstück zu machen, während du duschst? Oh, und ich habe einige neue Anziehsachen für dich gekauft, sie sind in deinem Schrank. Wenn sie dir nicht passen oder sie dir nicht gefallen, sag es mir einfach. Ich bringe sie dann wieder in die Läden zurück. Das ist kein Problem.”
Jade sah ihn an. Sam war so ernst – so gut. Wenn er bloß nie erfahren würde, was sein Baby hatte durchmachen müssen. Wenn nur die Seifenblase nie zerplatzen
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