Gefangene Seele
sich mit Earl Walters unterhalten hatte. In dem Moment als er ihr die Zeichnungen aus der Hand genommen hatte, war ihr, als wären auch die Schuldgefühle, die sie hatte, mit ihnen verschwunden. Sie brauchte nicht mehr die Vergewaltigungen in ihrem Gedächtnis lebendig zu halten. Der Polizeichef würde auf die ein oder andere Weise dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfahren würde. Alles, was Jade jetzt noch interessierte, war, Raphael die letzte Ruhe zu geben.
Antonia DiMatto spürte, dass sie in Sams Haus jetzt nicht mehr gebraucht wurde, jedenfalls zurzeit nicht. Sie begann, ihre Sachen einzupacken. Sie wollte gern noch weiter mit Jade sprechen, aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wenn alles vorüber war, würde sie die Muße haben, die Hölle ihrer Kindheit aufzuarbeiten.
“Sie gehen?”, fragte Sam.
Antonia sah kurz zu Jade hinüber, dann nickte sie. “Ja, aber ich komme wieder … sobald Ihre Tochter dazu bereit ist. Oder, Jade?”
Jade seufzte. Es war offensichtlich, dass die Frau nicht lockerlassen würde. Außerdem hatte sie recht. Sie musste sich mit den schlimmen Erinnerungen auseinandersetzen … irgendwann.
Aber im Moment musste sie darüber nachdenken, dass Raphael wirklich von ihr gegangen war.
“Ich sage Ihnen Bescheid”, sagte Jade.
Antonia lächelte. “Sehen Sie? Sie ist genau wie Sie, Sam. Alles zu seiner Zeit.”
Sam sah zu Jade hinüber, dann nahm er Antonia am Ellenbogen.
“Ich bringe Sie zur Tür.”
“Und ich warte auf Ihren Anruf”, wandte sich Antonia an Jade, dann winkte sie ihr zum Abschied.
Sobald sie aus der Tür waren, drehte sich Jade zu Luke um.
“Fährst du mich ins Krankenhaus, damit ich Raphael noch einmal sehen kann?”
Luke hatte das kommen sehen, und ehrlich gesagt, hätte er lieber selbst Prügel bezogen, als ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Aber er konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen.
“Ich muss erst mit der Polizei sprechen, ob …”
“Ich muss ihn noch einmal sehen.”
In ihren Augen standen die Tränen und ihre Unterlippe bebte, aber die Entschiedenheit in ihrer Stimme konnte Luke nicht übergehen. Jedes Mal, wenn er glaubte, er könne mit dieser Frau umgehen, bewies sie ihm das Gegenteil nur mit einem Blick oder einer Bitte.
“Ich rufe erst mal dort an.”
“Danke”, sagte sie.
Sie setzte sich wieder auf das Bett und hob die Hände vor das Gesicht, um es zu betasten, so wie ein blinder Mensch es täte.
“Was ist los?”, fragte Luke.
“Ich fühle mich so … verloren. Als hätte ich kein Gewicht. Raphael war mein Fels in der Brandung … mein Anker. Ich habe das Gefühl, ich möchte weinen, aber ich kann es nicht. Ich bin leer. Das scheint alles nicht wirklich zu sein. Letzte Woche war alles noch in Ordnung. Zumindest dachte ich, dass alles in Ordnung mit uns sei, aber schließlich denke ich, dass ich ihn nach all den Jahren gar nicht richtig kannte. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er so lange Zeit krank gewesen ist und mir nichts davon gesagt hat.”
“Er hatte um dich Angst, Jade. Und ich glaube, dass er auch um sich selbst Angst hatte. Wenn er jemals offen zugegeben hätte, wie krank er wirklich war, dann hätte er vielleicht nicht mit deinem Mitleid oder deiner Sorge umgehen können. Oder mit seiner eigenen Angst vor dem Tod. Dass du es nicht gewusst hast, hat ihn am Leben gehalten. Ein wenig zumindest.”
Einen Augenblick lang war Jade still, dann nickte sie schließlich.
“Es ist seltsam, aber ich glaube, das ergibt Sinn.”
“Ich gehe jetzt, um im Krankenhaus anzurufen”, sagte Luke.
“Luke? Warte!”
“Ja?”
“Wie gefährlich ist es für mich?”
“Ich weiß es nicht. Ich glaube, ziemlich.”
“Vielleicht sollte ich weggehen, um dich und Sam nicht auch zu gefährden.”
Erschüttert ergriff er ihre Oberarme und schüttelte sie. “Um Himmels willen, nein! Versprich mir, dass du so etwas nicht tun wirst.”
“Versprechen sind nichts als Worte. Taten sind die einzigen Versprechen, an die ich glaube”, antwortete sie und entzog sich seinem Griff.
Luke versuchte, sie wieder zu berühren. Er musste sichergehen, dass sie verstanden hatte, wie ernst es ihm war.
“Sieh mich an! Wer auch immer Raphael getötet haben mag, er hat seine Aufgabe noch nicht erledigt. Willst du diesem Typen ganz allein gegenübertreten?”
“Nein. Aber wenn ich das so sage, dann fühle ich mich wie ein Angsthase. Früher habe ich es zugelassen, dass Raphael zwischen mir und der Welt stand, denn
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