Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Verbindung lösen konnte, aber sie spürte immer noch einen leichten Zug ihres Bandes zu Dorian. Gab nach. Traf die Entscheidung in dieser Sekunde. Und hatte sich doch bereits entschieden, als sie das erste Mal Dorians Stimme gehört hatte.
Das Band fuhr in sie hinein wie ein Blitz, riss sie mit solcher Macht aus dem Medialnet, dass sie spürte, wie Äderchen in ihren Augen platzten. Ihr Geist schrie auf, Amara schrie ebenfalls, wollte ihr folgen und Ashaya streckte die Hand aus.
Sie war die Erstgeborene. Sie war für Amara verantwortlich.
Amara ergriff ihre Hand und verließ das Netz mit der gleichen Gewalt, wurde kurz darauf ohnmächtig. Ashaya weigerte sich, zusammen mit ihrer Schwester ins Nichts zu fallen. Ihre Schmerzen waren unwichtig, sie suchte und fand das neue Band, das sie mit einer solchen Heftigkeit gebunden hatte. Aber es verblich, wurde immer schwächer.
Sie griff mit ihren geistigen Händen danach und hielt es mit aller Kraft fest. Du darfst mich nicht verlassen!
Unter ihren Händen pumpte jeder Herzschlag das Blut aus Dorians Körper, tropfte zwischen ihren Fingern auf den Boden. Sie zwang sich, ihre Verzweiflung zu überwinden, und suchte krampfhaft nach einem Weg, es aufzuhalten. Aber ihre medizinischen Fähigkeiten lagen auf dem Gebiet der DNA und nicht darin, Arterien zu schließen.
Das Band zitterte, begann zu flackern.
Sie würde ihn verlieren. „Nein!“ Instinktiv sandte ihr Bewusstsein ihre eigene Lebensenergie durch das Band, erhielt Dorian weiter am Leben.
Es funktionierte.
Einen wunderbaren Moment lang wurde das Band stärker. Dann floss weiter Blut aus der Wunde, und das Band flackerte wieder.
Ashaya war Wissenschaftlerin. Sie verstand etwas von Ursache und Wirkung. Und sie wusste, dass sie Dorian am Leben erhalten konnte – vielleicht sogar lange genug, bis Sanitäter Flüssigkeiten zuführen und ein Chirurg die Wunde schließen konnte. Sie konnte ihn so lange am Leben erhalten, wie sie lebte. Dann würde sie mit ihm sterben.
Keenan, mein Kleiner.
Ihr Herz brach entzwei. Es war nicht fair, dachte sie tief in ihrem Innern. Sie konnte doch ihren Gefährten nicht sterben lassen. Und sie konnte auch ihren Sohn nicht verlassen. Wenn alles länger gedauert hätte, hätte sie diese Entscheidung vielleicht in den Wahnsinn getrieben, aber ihr standen nur Bruchteile von Sekunden zur Verfügung.
Und Dorians Blut floss in einem endlosen Strom durch ihre Finger.
Verlass mich nicht, Dorian.
Keenan würde in Sicherheit sein, dachte sie tränenblind. Er würde umsorgt werden. Sie warf einen kurzen Blick auf das kleine Netzwerk, von dem sie nun ein Teil war. Ihr Sohn war mit Dorian verbunden, aber schon streckten ihm auch andere hilfreich die Hand entgegen, würden ihn im Netz halten, wenn Dorian starb. Denn Keenan war ein Kind, und die Leoparden töteten keine Kinder.
Ihre Schwester würde mit ihr zusammen sterben, daran zweifelte sie nicht. Es wäre zu Ende. Ashaya konnte ihren eigenen Tod akzeptieren und auch den von Amara – aber nicht den Dorians.
Sie schickte ihre Lebensenergie in das Band, obwohl sie wusste, dass ihre Kraft nur noch Minuten vorhalten konnte – der Blutverlust stand in direktem Verhältnis zur übertragenen Energie. Aber seine Chancen zu überleben, bis Hilfe kam, wurden auf diese Weise verdoppelt. Ihre Hände waren nass und rutschten von dem Jackett ab, das sich immer mehr mit Blut vollsog. Sie konnte es kaum noch auf die Wunde drücken.
Schlanke Finger legten sich über ihre Hände, halfen ihr, weiter Druck auszuüben. Jemand stärkte ihr den Rücken, denn sie konnte kaum noch aufrecht sitzen. Und plötzlich sandte jemand ihr verzweifelt Energie.
Du darfst nicht sterben. Bitte, Ashaya. Stirb nicht.
Ashaya hatte nicht mehr die Kraft, ihrer Zwillingsschwester zu antworten. Die Augen fielen ihr zu, aber auf der geistigen Ebene hielt sie mit aller Macht das Band fest, hielt Dorian auf dieser Welt. Als es um sie herum dunkel wurde, stieg kurz der Gedanke in ihr auf, dass es sich eigenartigerweise so anfühlte, als schickte Dorian ihr Kraft. Seltsam.
Dann war alles zu Ende.
Mercy weinte und musste sich furchtbar zusammenreißen, um nicht zusammenzubrechen. Plötzlich standen zwei Männer auf der anderen Seite von Dorian. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zog sie die Pistole und zielte auf die beiden. Ein telekinetischer Schlag riss ihr die Waffe aus den Händen.
Einer der Männer kniete sich hin und sagte nur ein Wort: „Vorhersage.“
Sie starrte ihn an,
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