Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Schwester ihm etwas bedeutet hatte. So wie ihr Bruder ihm etwas bedeutete.
Aber der äußere Rahmen hatte sich verändert. Er war jetzt Ratsherr und stand von allen Seiten unter ständiger Beobachtung. Er würde den Kontakt zu Faith nicht abbrechen müssen, aber stets größte Vorsicht walten lassen. Genauso wie bei dieser ganz neuen Verbindung. Anthony berührte den Bildschirm und öffnete die nicht zurückverfolgbare Mail, die ihn vor einer Woche erreicht hatte.
Unterschrieben hatte das Gespenst, der bekannteste Rebell im Medialnet.
Anthony hätte gerne gewusst, wie und woher das Gespenst seine Informationen bekam. Nur ein ausgewählter Kreis von Leuten wusste, wem Anthonys wahre Loyalität galt. Und niemand von ihnen hätte Anthonys Geheimnis verraten. Zie Zen hatte es nicht einmal Ashaya erzählt.
Aber das Gespenst wusste, wie man Geheimnisse ausgrub – dadurch konnte es sich von unschätzbarem Wert erweisen. Anthony war nicht mit allen Aktionen des unbekannten Rebellen einverstanden, aber in den grundsätzlichen Zielen stimmten sie überein. Doch er wäre kein Ratsherr geworden, wenn er Dummheiten begangen hätte. Sie würden sich einander sehr langsam und vorsichtig nähern.
Er schloss die Nachricht wieder und dachte über eine Unterredung nach, die er am Vortag mit Zie Zen geführt hatte – sie waren beide der Meinung gewesen, dass Ashaya eine weitere Sendung machen sollte. Sonst würde sie die schon gewonnene Unterstützung wieder verlieren. Und da der Rat sich entschieden hatte, seine Kräfte eher dazu zu nutzen, Schadensbegrenzung zu betreiben, als die Übertragung zu stören, würde es diesmal wesentlich leichter sein.
Aber, dachte er, und der Gedanke ließ ihn auffahren, der Rat hatte dann auch die nötigen Möglichkeiten, um herauszufinden, von wo gesendet wurde. Außerdem wussten dann auch die anderen Ratsmitglieder, dass Ashaya sich im Umkreis von San Francisco befand … „Es wäre möglich.“ Er wählte sofort eine sichere Leitung und rief seine Tochter an. „Faith, du musst Ashaya warnen“, sagte er, als sie abnahm. „Ming wartet nur darauf, Sendesignale zurückzuverfolgen. Er könnte sie …“
„Es ist schon zu spät“, flüsterte Faith mit einer Stimme, die sie manchmal während der Visionen hatte. „Ich sehe Blut, so viel Blut. Oh, mein Gott. Dorian!“
In dem Augenblick, als Ashaya vor die Kamera trat und zu sprechen anfing, wusste Dorian, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie stand in hellem Licht, um sie herum lag alles im Dunkeln. Die perfekte Zielscheibe.
Vielleicht waren es nur seine ausgeprägten Instinkte als Wächter, die ihn vorstürzen ließen, bevor irgendjemand von den anderen überhaupt begriffen hatte, was da passierte … vielleicht hatte er auch durch das Sternennetz unbewusst den Warnruf einer kardinalen V-Medialen empfangen. Doch es spielte keine Rolle, warum er handelte. Es war nur wichtig, dass er die Kugel abfing, als ein TK-Medialer plötzlich vor Ashaya auftauchte und auf sie feuerte – die Kugel durchschlug seine Halsschlagader.
Ashaya schrie, als sie zu Boden fiel, Dorian hatte sie mit aller Kraft aus dem Weg gestoßen. Doch sie schrie nicht vor körperlichen Schmerzen. Sie spürte, wie das Leben aus Dorian wich, sich das Band zwischen ihnen mit Lichtgeschwindigkeit entfernte. „Nein, nein, nein.“
Sie befreite sich von dem schweren Körper des Bewusstlosen, setzte sich auf und bettete seinen Kopf in ihren Schoß, zerrte ihre Jacke herunter und versuchte vergeblich, die Blutung zum Stillstand zu bringen. Blut sickerte durch den Stoff auf ihre Finger. Sie wusste, was das bedeutete – die Wunde war tödlich. „Nein.“ Dieses Wort der Verzweiflung traf ihr schon angeschlagenes Herz. Sie dachte nicht mehr an ihre Schilde, ihren Schutz, sondern öffnete ihr geistiges Auge und suchte nach dem Band, das sich immer mehr ins Nichts verflüchtigte.
Er gehörte zu ihr. Er durfte sie nicht verlassen.
Aber sie fand das Band nicht, konnte ihn damit nicht halten. Es war noch unsichtbar, nur lose mit den Gefühlen für diesen Mann verbunden, der gerade in ihrem Schoß starb. Sie spürte eine Hand auf der Schulter, und eine vertraute weibliche Stimme sagte, Sanitäter seien auf dem Weg. Sei ruhig, dachte sie, sei bitte endlich ruhig.
Es wurde ganz still in ihrem Kopf, und sie erlebte einen Moment der Klarheit in diesem ganzen Chaos.
Sie konnte das Band nicht sehen, weil sie im Medialnet eingeschlossen war.
Ashaya wusste nicht, wie sie die
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