Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
sorgenvoll, schon mit einer zweiten Waffe im Anschlag. Weder der Kniende noch der TK-Mediale, der ihn hergebracht hatte, trugen erkennbare Waffen. Der Mann schob Ashayas blutige Hand beiseite und hob ihren schlaffen Arm hoch. Dorians Blut war nur noch ein dünnes Rinnsal.
„Sein Herz schlägt noch“, sagte der Fremde.
Mercy wusste nicht, warum sie zuließ, dass dieser Fremde seine Hand auf den Hals ihres Freundes legte, warum sie nicht den Lauf der Waffe an seine Schläfe hielt und abdrückte. „Aber zu langsam.“
„Ausreichend. Völlig ausreichend.“ Der fremde Mann legte seine Finger auf die Wunde.
Mercy konnte nichts erkennen, aber sie spürte die ausstrahlende Hitze. Voller Hoffnung blickte sie Ashaya an. Die M-Mediale lehnte immer noch zusammengesunken an Eamon, ihre sonst so leuchtende Haut sah bleich und stumpf aus.
Eamon weinte. Die Aufnahmeleiterin ebenfalls. Eine schlanke Frau mit Namen Yelena stand zitternd da und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Sie schrie die Sanitäter an, sie sollten sich beeilen, obwohl alle wussten, dass sie nicht mehr rechtzeitig eintreffen würden. Der verdammte Rat hatte es diesmal richtig gemacht. Sie hatten den richtigen Zeitpunkt gewählt, eine Handfeuerwaffe statt geistiger Kräfte benutzt, die durch starke mentale Schilde hätten abgewehrt werden können, alles war mit der Präzision eines Uhrwerks abgelaufen.
Und nun lagen zwei Leute im Sterben. Mercy ergriff Ashayas leblose Hand. „Halte durch!“ Wenn sie daran dachte, dass sie sich einst gefragt hatte, ob diese Frau wirklich etwas für Dorian empfand! Sie hatte immer so gefühllos gewirkt. „Durchhalten!“ Mit der anderen Hand ergriff sie die von Dorian. Jetzt waren beide wieder miteinander verbunden. „Wagt bloß nicht zu sterben, ihr zwei. Ich will die Patin eurer Kinder werden.“
Die Hände des Fremden lagen weiter auf Dorians Körper. Die Hitze war immer noch spürbar. Mercy ignorierte das Klingeln ihres Handys. Dann klingelte es auch bei Eamon. Und dann bei Yelena, die es anstarrte, als sei es eine Schlange.
„Geh ran“, sagte Mercy, deren Schock allmählich abklang. Der Mann, der sich um Dorian kümmerte, erinnerte sie ein wenig an Judd. Nicht dem Aussehen nach. Seine Vorfahren mussten vom chinesischen Subkontinent stammen. Die Gesichtszüge waren scharf geschnitten, er hatte olivfarbene Haut und schräg gestellte Augen mit geradezu lächerlich langen Wimpern. Sein Haar war schwarz, kurz geschnitten und glatt und glänzend wie Gefieder. Nein, er sah wirklich nicht wie Judd aus. Aber er hatte die Ausstrahlung eines Auftragskillers.
Das galt noch mehr für den hinter ihm Stehenden. Seine Augen waren grau, sein Haar schwarz, die Ausstrahlung dieselbe. Und Faith hatte sie zu Dorian geschickt. Nein, dachte Mercy, Faith nicht. Natürlich nicht. Sie schluckte und sah Dorian an. „Er blutet noch immer.“
„Nur Geduld. Ich bin Chirurg, kein Wunderheiler.“ Leise und knappe Worte.
Eigenartigerweise beruhigte sie das. Chirurgen waren immer sehr abweisend. Und wenn dieser hier Dorians Leben rettete – und damit auch Ashayas –, hatte er alles Recht der Welt, arrogant zu sein. Er griff mit einer Hand in seine Gesäßtasche und holte eine flache Schachtel mit vielen kleinen Tuben heraus. Er öffnete eine davon und drückte eine weiße, klebrige Masse auf Dorians blutige Wunde.
„Das müsste funktionieren“, murmelte er. „Ich habe die Arterie vorübergehend geschlossen.“
Aus Dorians Hals sickerte immer noch Blut. „Warum behandeln Sie ihn nicht bis zu Ende?“ Mercy nahm die Pistole hoch und drückte sie an seine Schläfe. „Los, machen Sie schon.“
Er sah sie furchtlos an. „Ich bin Feldchirurg, ein M-Medialer, der bestimmte Verletzungen versiegeln kann und andere so lange versorgen, bis die Mikrochirurgen da sind. In diesem Fall leistet der Kleber bessere Dienste als ich.“
Sie drückte den Lauf fester gegen seinen Kopf. „Sie sind ein Knochenbrecher?“
„Ich bin ein Mann, der gerade Ihrem Rudelgefährten das Leben gerettet hat. Sehen Sie selbst.“
Sie senkte den Blick, der TK-Mediale nutzte die Gelegenheit und versuchte, ihr die Waffe aus der Hand zu winden. Ihr Arm wurde nach hinten verdreht, aber sie lockerte den Griff nicht. Der Überfall machte ihr nichts aus. Denn der M-Mediale hatte die Wahrheit gesagt. Dorian blutete nicht mehr. Doch damit war er noch längst nicht außer Gefahr. Und Ashayas Herz schlug genauso schwach wie das von Dorian. Wenn einer von ihnen starb, starb
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