Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
dieselben Bedürfnisse wie andere Leoparden. Als Kind hatte er befürchtet, er würde verrückt werden, so stark war das Verlangen gewesen, zu laufen, zu jagen, Zähne und Krallen in lebendiges Fleisch zu schlagen.
In einer eisigen Winternacht hatte er alle Regeln seiner Eltern über Bord geworfen, war aufgestanden und in menschlicher Gestalt auf Jagd gegangen. Nach dieser Nacht war er mit zerfetzten Fußsohlen zurückgekehrt, aber er hatte zum ersten Mal Frieden gefunden. Damals hatte er beschlossen, sich niemals mehr als Krüppel anzusehen. Er würde einfach so hart werden, dass niemand mehr an seiner Identität als Gestaltwandler zweifeln konnte.
Sechs Jahre war er damals gewesen.
Vielleicht hatte er deswegen so schnell Keenans Vertrauen gewonnen. Irgendetwas an dem Jungen rührte an das Kind, das er einmal gewesen war. Obwohl er hochintelligent war und noch jung genug, um nicht völlig unter der Geißel von Silentium zu stehen, lag etwas Schweres in Keenans Blick, ein Wissen, das dort nichts zu suchen hatte.
Und genau dasselbe Wissen sah Dorian noch tausendmal stärker in Ashayas Augen.
Ashaya hatte auch mit dem Rat gespielt, aber noch nie war es ihr so gefährlich vorgekommen. Denn sie sah zwar in ein menschliches Gesicht, wusste aber gleichzeitig, dass der Mann vor ihr etwas ganz anderes war, jede seiner Bewegungen zeigte seine Leopardennatur. Und gerade eben verhielt er sich so still wie eine Raubkatze, die darauf wartete, dass ihre Beute einen Fehler beging.
„Machen Sie nur weiter“, sagte sie, sie würde keinen Rückzieher machen, auch wenn er unwissentlich im Vorteil war – er hatte heute ihren Sohn besucht, sorgte sich um ihn, wie es seiner Natur entsprach, dafür war sie ihm zu Loyalität verpflichtet. „Aber seien Sie sich darüber im Klaren, dass ich im Natternnest des Medialnet aufgewachsen bin.“
Seine Mundwinkel hoben sich leicht. Seltsam, woran er Gefallen fand. Sein Verhalten folgte keiner Logik. Gestern hatte sie einen Streit abgebrochen und seinen Zorn wie einen Peitschenschlag auf der Haut gespürt. Heute lag in jedem ihrer Worte die Kälte von Silentium, und er lächelte.
„Wollen Sie damit sagen, dass ich ein Leichtgewicht bin?“, fragte er mit einer Stimme, die von der Heiterkeit und raubkatzenhaften Arroganz des gefährlichsten Wesens in diesem Raum erfüllt war.
Sie stand auf, vergewisserte sich, dass ihre schwarze Hose tadellos saß und zog ihr Jackett an. „In dieser Hinsicht sind Sie es. Sie sind ein körperbetontes Wesen und gewohnt, Ihren Körper ebenfalls als Waffe einzusetzen. Ich dagegen bin gewohnt, mich allein mit meinem Verstand zu verteidigen.“
„Dann haben Sie wohl nichts gegen Spielchen einzuwenden?“
Sie schloss den letzten Jackenknopf und blickte hoch. „Ganz im Gegenteil, ich würde es vorziehen, in einer Welt zu leben, in der nicht jedes Wort eine doppelte Bedeutung hat.“ In der sie nicht permanent aufpassen musste, kein Messer in den Rücken zu bekommen. „Es würde mein Leben ungemein vereinfachen.“
Sie hatte ihn überrascht, wie sie gleich darauf feststellen konnte. Er kniff die Augen zusammen und strich ihr Revers glatt, die Geste hatte etwas Vertrautes an sich, wie sie mit dem eingerosteten Teil ihres Bewusstseins feststellte, den dieser Leopard bei ihr geweckt hatte.
„Das, meine Süße“, sagte er, „würde dich langweilen. Leicht und direkt ist nichts für dich.“
Er hatte ein Kosewort gebraucht, sah sie aber an wie eine Katze, die auf der Hut war. Nein, sie verstand diesen Mann ganz und gar nicht. „Wir werden uns darauf einigen müssen, in diesem Punkt uneins zu sein. Ich muss gehen.“
Er ließ ihre Jacke los, und sie spürte voll Unbehagen, dass sie die Bauchmuskeln so stark angespannt hatte, dass sie nun wehtaten. Sie versuchte sich zu beruhigen – die Produzenten der Sendung kamen gerade auf sie zu. Wenn es dem Rat nicht gelang, die Übertragung zu unterbrechen, würde sie bald von hier bis Paris und weit darüber hinaus über die Bildschirme aller Wohnungen flimmern und auf Plakatwänden zu sehen sein.
Obwohl CTX als Wolf-Leoparden-Unternehmen nicht der Lieblingssender der Medialen war, würde die Sendung von genügend rebellischen Medialen gesehen werden und die Nachrichten sich verbreiten. Sie würde auf den vordersten Platz der Todesliste des Rates rutschen. Aber darum konnte sie sich später immer noch Sorgen machen.
Jetzt musste sie erst einmal die Rahmenbedingungen für ein Chaos schaffen, das das ganze
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