Gefeuert
konsultieren, nur um aufs Fax verwiesen zu werden.
Gut, dass am Nachmittag meine Freundin Sarah vorbeikommt. Das ist eine willkommene Ablenkung. Außerdem haben wir uns lange nicht mehr gesehen. Ihre Besuche sind ein seltenes Vergnügen. Sarah wohnt zwar in derselben Stadt wie wir, mit dem Bus ist man gerade mal eine Viertelstunde zwischen unseren beiden Wohnungen unterwegs. Aber sie ist immer so beschäftigt, dass sie Termine nur in Monaten vergibt.
Sie ruft etwa an und sagt: »Ich würde euch gerne mal wieder sehen.«
»Schön!«, antworte ich. »Du bist jederzeit willkommen. Wann passt es dir denn?«
»Lass mal sehen – dieses Wochenende bin ich in Genf, unter der Woche geht gar nicht und …« Sie blättert mehrere Minuten vor sich hin murmelnd in ihrem Terminkalender und kündigt ihren Besuch in sechseinhalb Wochen an.
Ich mache keine Einwände. Es ist immer so. Sarah ist Single und hat, seit ich sie kenne, ihre Freizeit gut durchorganisiert. Richtig schlimm ist es erst mit dem neuen Job geworden, den sie vor einem Jahr angenommen hat. Seither macht sie Überstunden ohne Ende, dazu kommen häufige Geschäftsreisen und manche Abendtermine. Der Job schafft sie ziemlich. Und das liegt nicht an ihrem zeitlichen Einsatz, sondern daran, dass sie immer einen Arbeitsberg vor sich herschiebt, der nicht kleiner wird. Ihre Abteilung ist deutlich unterbesetzt. Das weiß auch ihr Chef, der dennoch erwartet, dass seine Mitarbeiter das Unmögliche möglich machen.
Zu einem typischen Sarah-Besuch gehört deswegen inzwischen, dass sie von mir schnelltherapiert wird, sprich: sich ausjammern darf. Kommt sie abends nach der Arbeit, dann ist sievöllig erschöpft und frustriert. Sie erzählt eine Stunde lang von ihrem Büroalltag, wo (immer) viel zu viel zu tun ist, (immer) die Kollegin mobbt und (immer) noch mehr verlangt wird. Danach ist sie wieder sie selbst.
Wenn ich jetzt nach einem Elternzeittag den Kopf über Sarah schüttele, vergesse ich für einen Moment, dass ich selbst genauso war, es mir genauso ging. Bevor ich den Kleinen bekam, war ich im steten Kampf, mich gegenüber den zeitlichen Anforderungen des Jobs so weit zu behaupten, dass ein Familienleben überhaupt möglich war. Meine Laune dabei war nicht immer die beste. Ich war zeitweise sehr gestresst, habe nur noch funktioniert.
Was Sarah im Job erlebt, und auch ich kenne, ist typisch für die heutige Arbeitswelt. In den vergangenen Jahren hat die Belastung im Beruf deutlich zugenommen. Die Unternehmen verlangen von den Beschäftigten immer mehr. Diese versuchen zwar die gestiegenen Erwartungen zu erfüllen, sie zahlen dafür aber einen hohen Preis: Nicht nur das Privat- und Familienleben leidet darunter, sondern auch die Gesundheit. Die psychischen Erkrankungen verbreiten sich enorm. Allein die Anzahl der Krankheitstage durch Burnout, also das seelische und körperliche »Ausgebranntsein«, hat seit dem Jahr 2002 um ein Drittel zugenommen.
Belastend sind vor allem ein hoher Termin- und Leistungsdruck, der durch neue Organisationsformen, wie die Arbeit in Projekten, verstärkt wird. Dadurch erhalten die Mitarbeiter zwar mehr Freiheiten und Verantwortung, was positiv ist. Gleichzeitig haben sich aber die Arbeitsbedingungen verschlechtert, etwa weil es zu wenige Mitarbeiter gibt oder Stellen mit schlechter qualifizierten, aber billigeren Arbeitskräften besetzt werden. Wenn Arbeitgeber zugleich unrealistisch viel verlangen, lernen die Mitarbeiter die Kehrseite der neuen Eigenverantwortung kennen: Sie müssen selbst sehen, wie sie mit der Situation fertig werden. Das führt häufig zu Selbstausbeutung und einer »Entgrenzung« der Arbeit, die durch die modernen Kommunikationsmittel noch verstärkt wird. Die Grenze zwischenBerufs- und Privatleben weicht auf, selbst am Feierabend und am Wochenende sind Berufstätige auch unterhalb der Managementetagen heute erreichbar und »freiwillig« im Einsatz.
Eine Forschergruppe um Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und G. Günter Voß von der Technischen Universtät Chemnitz untersucht die psychosozialen Kosten dieser Veränderungen, die unsere Arbeitswelt seit einigen Jahren prägen. Vor allem der Druck, ökonomisch ununterbrochen effizient und innovativ sein zu müssen, verschleiße die psychophysischen Kräfte vieler Beschäftigter. Die Wissenschaftler warnen sogar vor einer »Blase« massiven ökonomischen und organisatorischen Drucks ähnlich der Finanzblase, deren Zerplatzen zur jetzigen
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