Gefeuert
und ich werde um Geduld gebeten: »Die Bearbeitung Ihrer Bewerbung wird einige Zeit in Anspruch nehmen.« Dabei ist die Stelle doch »zum sofortigen Eintritt« ausgeschrieben, wundere ich mich.
Sobald ich die Zeitung aufschlage, habe ich den Eindruck, dass ich mich mit meiner Jobsuche noch mehr beeilen sollte. Für nächstes Jahr werden höhere Arbeitslosenzahlen prognostiziert. »Die Krise ist nicht vorbei. Die schwierigsten Monate kommen erst noch«, heißt es von allen Seiten. Einen Vorgeschmack darauf gibt es schon jetzt. Das Versandhaus Quelle ist pleite. Auf einen Schlag verlieren Tausende von Mitarbeitern ihren Arbeitsplatz.
Bei der Wirtschaftsentwicklung sind sich die Experten uneins. Kaum sagt ein Institut, es gehe aufwärts, schon meldet sich ein Bedenkenträger und warnt vor zu viel Optimismus. Bislang haben mich die regelmäßigen Konjunkturerwartungen zum Gähnen gelangweilt. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Eindruck, dass diese Prognosen etwas mit mir persönlich zu tun haben. Und nicht nur mit mir. So viele sind betroffen. Meine Kollegen, die Angst haben, den Job zu verlieren. Mein Bruder, in dessen Unternehmen Kurzarbeit ist. Johannes, bei dem die Aufträge zurückgehen. Luc, den es ebenfalls erwischt hat.
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Der Test
Eigentlich sollte ich in die Exarbeit fahren. Aber ich mag nicht. Ich stelle mir vor, wie mich alle neugierig und wenig rücksichtsvoll fragen: »Und? Was läuft so bei dir seit deinem letzten Besuch?« Nein, danke. Das tu ich mir nicht an.
Ich muss die E-Mails löschen, bevor meine Elternzeit endet. So steht es in der Abwicklungsvereinbarung. Nicht alle, nur die »privaten«. Das kam mir komisch vor, als ich diesen Passus das erste Mal las, und ich konsultierte gleich die Anwältin.
»Haben Sie denn etwas Verfängliches geschrieben?«, fragte sie mich.
Nein, »Verfängliches« habe ich nie geschrieben, nicht, soweit ich mich erinnern kann. Und warum sollte ich auch? Andererseits sind 15 Jahre eine lange Zeit. Mag sein, dass irgendwann einmal eine E-Mail hin- und herging, die nachträglich »verfänglich« klingen mag. Die E-Mails nach einer Kündigung zu löschen, das sei ganz normal, sagte die Anwältin und empfahl mir, das auf jeden Fall zu tun.
Auch wenn es normal ist, frage ich mich, warum mein Arbeitgeber das verlangt. In unserem Unternehmen war die private Nutzung von Internet und E-Mail nicht untersagt. Deswegen bestand keine Gefahr, dass die Nachrichten von oben mitgelesen werden. Arbeitsrechtlich geht das nur, wenn die private Nutzung verboten ist. Ist sie erlaubt, muss der Arbeitnehmer erst sein Einverständnis erklären, bevor mitgelesen wird.
Aber warum löschen sie nicht einfach meine E-Mail -Adresse und alle Nachrichten, die ich jemals empfangen und geschrieben habe? Warum wollen sie nun nachträglich in mein E-Mail -Fach sehen? Denn das müssen sie doch wollen, das ist der einzige Grund, der mir einfällt, warum ich meine privaten Nachrichten löschen soll. Und die Vorstellung ist mir sehr unangenehm. Ob Herr Roth wohl hineinsieht? Es fühlt sich an, als würde er in meine Privatsphäre dringen. Mein E-Mail -Postfach,das war doch mein kleines persönliches virtuelles Fenster zu Kollegen, zu Geschäftspartnern, zur Außenwelt, auch wenn ich dabei auf meinem Arbeitsplatz saß und berufliche Nachrichten verfasst habe. Das ist so, als würden sie in einem Besprechungsraum sitzen und alle meine jemals geführten Telefonate abhören oder ihre Köpfe zusammenstecken, um sämtliche Notizen und Briefe, die ich verfasst habe, durchzublättern.
Also lösche ich die E-Mails jetzt. Alle. Von zu Hause aus. Ich bringe es nicht über mich, sie auf einmal in den Orkus zu befördern – ich nehme an aus reiner Sentimentalität. Ich kann es mir nicht verkneifen, sie durchzusehen. Es ist meine letzte Möglichkeit dazu. Ich bin gerade beim Jahr 2003, so weit reichen einige Mails zurück. Nicht alle, nur die, die ich damals aus irgendwelchen Gründen extra gespeichert habe, statt sie dem automatischen Löschvorgang zu überlassen. Hat jemand eine Vorstellung, an wie vielen fast vergessenen Chefs, Kollegen, Kontakten und Projekten ich bis dahin vorbeigekommen bin? Ich habe Namen gelesen, die ich schon völlig verdrängt hatte. Am Anfang habe ich aus Neugierde noch manche Nachricht geöffnet, später habe ich nur kurz innegehalten, wenn ein Betreff besonders herausstach. Es ist eine seltsame, einsame Art, sein Arbeitsleben Revue passieren zu lassen.
Das
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