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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Sylva
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Maße der Leiden, an dem Grade der Hitze, die man dir zumutet. Still halten, es ist bald überstanden, es dauert nicht ewig. Denn ewige Pein kann es nicht geben, gewiß nicht auf derErde, deren Endlichkeit uns nur zu deutlich jeden Augenblick entgegen tritt. Jeder Augenblick kann der letzte, der dir bestimmten oder von dir ausgewählten Qual sein, jeder Augenblick kann dir Befreiung oder wenigstens zeitweilige Abkühlung bringen, in dem Glühofen der Schmerzen. Harre nur aus! Nur noch ein klein wenig, Seele, harre aus, ich bitte dich! Das Licht ist nahe, die Sonne steht über deinem Haupte, die Sonne ewiger Kraft, ewiger Helle, ewigen Verstehens. Du siehst doch, daß du wert und edel sein mußt, Seele, sonst fände man es nicht der Müde lohnend, dich so zu schleifen und zu glühen und zu schmelzen und wieder in die Glut zu werfen, zu walzen und noch einmal in erneute Glut zu schleudern, bis du als derjenige herauskommst, der du hast sein wollen.
    Ja du hast gemeint, Seele, in einer Erdenlaufbahn vielleicht niedrere zu überspringen, und hast Stolz gewähnt, soviel Leid tragen zu können, und nun wirst du beim Worte genommen, und du zitterst sehr, und meinst zu Grunde zu gehen, und fragst warum, und begreifst nicht, was dir soviel Leid zugezogen, da du dir keiner Schuld bewußt bist.
    Dein Fehler liegt darin, daß du dich, Seele, mit dem, was du bewohnst, verwechselst und meinst, dein Gehirn leidet, dein Herz leidet, deine Gesundheit leidet, und nicht denkst, daß du höher stehst, als dein Hirn, dein Herz, deine Gesundheit, deine Kraft, daß du eben aus einem ganz anderen Stoff gemacht bist, der all das Glühen vertragen kann, und nicht zaudert und nicht erschrickt.
    Die Welt, aus der du kommst, hat einen ganz anderen Maßstab für das Erträgliche und Unerträgliche, und nur, daß du das kleine Erdenmaß anlegst, ist, woran du meinst, zu Grunde zu gehen, sage nur immer: Ich leide, das tut ja nichts, ich bin unglücklich, das tut ja nichts, ich bin schwach, das tut ja nichts, das einzige, das wert ist, beachtet zu werden, ist der zurückgelegte Weg, die Ferne von dem kleinlichen Erniedrigenden, die immer größer wird: denn du wanderst höherem Ziele zu, Seele, du wirst den Staub deines Leibes abschütteln, aber nicht bevor du das erreicht hast, was du erreichen wolltest, bevor du der Erde Schwäche, Kleinheit, Weiblichkeit noch einmal zu ertragen gelobtest.
    Wehre dich nicht, Seele, gegen die Feuerglut.Würde man von Leidensgluten sprechen, wenn sie kühl wären und wenn sie garnicht zählten und garnichts erreichten?
    Ein dunkler Instinkt lehrt uns Menschen, diejenigen für heilig zu erklären, die mehr erduldet als die andern. Warum denn? War es nicht im Gefühl und vielleicht im Bewußtsein, daß sie für ein schöneres, heiligeres Leben geglüht wurden, und der göttlichen Nähe teilhaftig werden sollten? Wer bist du, Seele, daß du mit Gott haderst, oder daß du zu zagen wagst, du seist nicht? Hast du dir nicht schon oft mitleidig zugesehen, wie du leidest, als wärest du ein zweiter außer dir selbst Stehender, der genau weiß, daß der leiden muß, dem er zusieht. Du weißt überhaupt viel mehr, als du zu wissen vorgibst. Und es ist deine eigene Schuld, daß du es deinem Gehirn so dunkel werden lässest, daß du nicht mehr verstehst, wohin du geführt wirst, wohin du wahrscheinlich selbst begehrt hast, geführt zu werden. Du weißt nicht, was du sühnst, aus Mitleid, damit dir die Selbstverachtung erspart wird und deine Mitmenschen dich für heilig ansehen statt für einen armen Sünder, der vergangene Schuld büßt. Seele! Sei nicht so zaghaft, du bist zuedel dafür. Das Erdenleben ist es nicht wert, daß du ihm so große Wichtigkeit leihst. Betrachte es doch als das, was es ist und nicht als mehr, nicht als dein ein und alles, nicht als den Anfang und das Ende deiner selbst. Du kommst aus weiten Fernen und wanderst in noch weitere Fernen, und auf deinem Wege mußt du eben den Glühofen der Erde auch durchwandern, sonst erlangst du die Reife nicht, die du erreichen kannst und die dir neue Tore öffnet. Mut, schwache Seele! Mut, zaghafte Seele! Mut, ungläubige Seele! Natürlich bist du müde, das tut ja nichts! Sei müde, aber standhaft! Sei müde, aber geduldig! Sei müde, aber geläutert! Es wird etwas aus deinen Augen leuchten, das allen andern Seelen Mut einflüstert, und sie hoffen lehrt und sie glauben lehrt, daß sie mehr sind als Herz und Hirn und Nieren! Seele! Leide und sei standhaft! Leide und

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