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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Sylva
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Seele. Was ist deine Reue, nicht, daß du anders gedacht hast, als die andern, daß du das Gute gesucht, wenn man es dir nicht gestatten wollte, daß du der Wahrheit die Ehre geben wolltest, als man es nicht haben wollte oder für lüge erklärte, was dir Wahrheit schien. Aber, daß du dich hast fürchten können, das nagt dir am Leben, das macht dich so elend, wo du frei sein könntest in dir.
    Manchmal fehlt auch nur der Mut, wehe zu tun. Du hast Angst gehabt, Leiden zu machen. Aber das mußtest du wissen, daß du Leiden machen würdest, und nicht beben, als das Messer in deiner Hand bereits die Wunde berührte. Hätte deine Hand nicht gezuckt, so hättest du vielleicht heilen dürfen. Aber du hast gebebt und nun schreien sie, du seiest ein ungeschickter Arzt. Und da haben sie vielleicht Recht. Denn der geschickte Arzt hätte sich an ihr Schreien nicht gekehrt, sondern hätte fest weiter geschnitten, mitten in das Übel hinein. Du aber wolltest nicht wehe tun. Das hättest du vorher überlegen müssen. Entschuldige dich nicht vor dir selber, du hast dich gefürchtet, und du weißt es, und darum hast du so vielMühe in die Höhe zu kommen, nicht wegen der Menschen, nicht wegen der Gefangenschaft, in der sie dich halten, und die dir nichts anhaben kann, bis du Seele nur frei. Was dich unfrei macht ist deine eigne Furcht. Und wovor? Besinne dich! Du hast dich vor dem Schicksal nicht gefürchtet, sondern oftmals ihm getrotzt. Du hast dich vor dem Tode nicht gefürchtet, dem du oftmals ins Angesicht gesehen. Du hast dich gefürchtet vor den schlimmen Menschenworten! Warum ließest du sie nicht vorüberbrausen wie Sturm? Der ist auch einmal vorüber, wenn er ausgetobt hat. Aber die schlimmen Worte der Menschen haben dich zittern gemacht. War es der Mühe wert Seele? Du sagst, der Stier hat keinen Verstand, aber seine Hörner zerreißen auch ein Genie, du hast vielleicht damit deinen Beruf erfüllt. Christus ist freiwillig in den Tod gegangen, weil er wohl wußte, daß, wenn er seine Lehre nicht mit seinem Blute besiegelte, sie keinen Glauben finden würde. Nur der Gedanke, für den man leidet bis zum Tode, hat Lebenskraft. Mehr brauchtest du auch nicht, als eines Gedankens Träger sein und für denselben leiden bis zur Kreuzigung. Das wird manche stutzig machenund sie fragen lassen, ob nicht dennoch ein Funke von Wahrheit in dem gewesen, was du mit deinem Blute besiegelt hast, sie wollen an deinem Verstande zweifeln, laß sie zweifeln. Du weißt, daß dein Verstand gesund ist, ist das nicht genug, Seele? 0 Mut, Seele, Mut ist eine große Sache.
    Dir ist das Lager verhaßt, auf welchem du die schlaflosen Nächte und all das Zittern erduldet halt. Du möchtest den Räumen entfliehen, in denen du geplagt und verfolgt worden bist, und gequält mit der Folter böser Zungen. Kindisch! Du bist doch stärker als ein Eindruck, als ein Lager und ein Raum, Seele, denn du hast weder Raum noch Lager, du schwebst in der Unendlichkeit, und hast dich völlig freiwillig, diensteifrig für eine Zeit in die Hülle des irdischen Körpers begeben, gerade weil du gesehen hast, daß es etwas für die Menschheit zu tun und zu leiden gab. Du halt dirs nicht so unmenschlich schwer gedacht, als du noch frei warst, Seele, als du vergessen hattest, wie es war auf der Erde, im irdischen Gewande verborgen zu sein, in dem keiner dich mehr erkennt als die du bist, Seele; dulde noch eine kleine Weile, du wirst dich wundern,wie herrlich du dich fühlen wirst, wenn du wieder die irdische Hülle abstreifst und lächeln kannst über die Wesen, die dich mit Nadelstichen zum fürchten brachten. Da hattest du dein himmlisches Wesen für einen Augenblick vergessen, sonst hättest du dich nicht fürchten können, sie hatten dir so lange gesagt, du seist irdisch, bis du es ihnen beinahe geglaubt hättest, obgleich du sehr wohl weißt, woher du stammst. Der Hirsch, den die Meute jagt, ist ein edles Tier, von königlichem Geblüt, und die Meute ist dennoch für den Augenblick stärker, nur weil sie zahlreich ist, und weil er sich fürchtet. Würde er sich stellen, so würde die Meute stutzen und sich ihrerseits fürchten. Aber vor dem fliehenden Hirsch fürchtet sich keiner mehr. Erst in der Todesstunde setzt er sich zur Wehr und zeigt seines Geweihes Kraft, wenn es zu spät ist. Könnte er in voller Kraft um sich stoben, sie könnten ihn nicht niederreißen. Aber er kennt seine Kraft nicht, er sieht nur das Ungewohnte, er hört das Gebell, das ihn erschreckt, und

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