Gefrorene Seelen
Stereoanlagen, Radiorekorder und Tonbandgeräte– Dinge, die leicht zu transportieren und zu verkaufen waren. Auch Laptops, wenn sich die Gelegenheit bot. Er wartete immer, bis er einen Lieferwagen voll zusammenhatte, dann fuhr er hinunter nach Toronto. Gewöhnlich war er noch am Abend wieder zu Hause. Komm, Truckie, iss doch noch was.« Sie schob noch ein bisschen weichgekochtes Ei in den Mund des Kleinen. Der Junge schluckte es, schaute auf und griff nach dem Löffel. »Das schmeckt dir. Ja, ich weiß.«
Der Kummer ergreift von jedem Menschen auf jeweils eigene Art Besitz. Vom anderen Ende der Küche beobachtete Cardinal, wie sich Martha Wood behutsam ihrem kleinen Sohn zuwandte und das Eigelb vorsichtig auf den Löffel nahm. Sie hatte schwer damit zu kämpfen, beides, das Füttern ihres Kindes und die Beantwortung der Fragen der Polizisten, zugleich zu bewältigen. Ihre Bewegungen waren langsam und vorsichtig, als hätte sie Brandverletzungen erlitten. Auch spürte Cardinal einen verhaltenen Zorn unter dem offenkundigen Schmerz, ohne dass er hätte sagen können, worin dieser Zorn bestand. Alle ihre Antworten gab sie seiner Kollegin Delorme.
»Der ist ja süß«, sagte Delorme. Sie strich dem Kind über das schwarze, weiche Haar. »Sie nennen ihn Chuckie?«
»Truckie. Eigentlich heißt er Dennis, nach Woodys Vater, aber Woody hat ihn immer Kipper genannt.« Sie wischte dem Kleinen Eigelbspuren aus dem Gesicht und bugsierte eine weitere winzige Portion auf den Löffel. Kleine rundliche Finger ergriffen den Löffel und führten ihn zu dem gierigen Mund. »Als ich schwanger war, sagte Woody immer: ›Wir brauchen doch kein Baby! Wir brauchen ein Radio, eine Leselampe, einen Kipper! Warum geben wir ihm nicht so einen Namen?‹ Und zum Spaß nannten wir ihn dann Leselampe und Kipper, und bei diesem Spitznamen ist es dann geblieben …«
In der Küche roch es nach Baby: Puder, Pflegetücher und Windeln. Cardinal schien es, als hätte er nie etwas Traurigeres gesehen als diese hübsche junge Mutter mit ihrem Kind.
»Hallo, Truckie«, redete Delorme den Kleinen an. »Wie geht’s denn so?«
Zum ersten Mal sah Martha Wood Cardinal direkt an. »Würden Sie bitte gehen?«
»Ich? Ich soll gehen?« Cardinal war völlig überrascht. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass die junge Frau ausgerechnet ihn im Visier hatte.
»Sie wussten gestern schon die ganze Zeit, dass mein Mann tot war. Und trotzdem haben Sie mir Fragen gestellt, als ob das gar nicht wichtig wäre. Was glauben Sie wohl, wie mir zumute war?« Obwohl sie einen starken Charakter hatte, bebte ihre Stimme jetzt.
»Es tut mir leid, Mrs. Wood. Mir ging es nur darum, so rasch wie möglich Informationen zu bekommen.«
»Ihretwegen habe ich mich furchtbar gefühlt, so wertlos. Ich will Sie in meinem Haus nicht mehr sehen.«
Cardinal stand auf. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er. »Ich fühlte mich unter Zeitdruck, und deshalb habe ich die Situation falsch eingeschätzt. Es tut mir wirklich leid.«
Er verließ das Haus durch den Seiteneingang, setzte sich ins Auto und machte sich Notizen. Mein Gott, bin ich ein schlechter Polizist, dachte er. Und das Schlimmste wissen die Leute noch gar nicht. Wegen einer dummen Fehleinschätzung habe ich die Gelegenheit verpasst, mich in Woodys Haus umzusehen. Er würde nie erfahren, wie sehr das die Ermittlungen zurückwarf. Wenn die Reporter von Kanal Vier Wind davon bekämen, wäre das ein gefundenes Fressen.
Delorme kam eine halbe Stunde später. »Die arme Frau«, sagte sie, als sie auf den Fahrersitz rutschte.
»Haben Sie sich im Haus umsehen können?«
»Ja. Viel zu sehen gab es nicht. Aber ich habe das hier gefunden.« Sie reichte ihm einen Umschlag.
Cardinal holte einen Packen Polaroidfotos hervor, von denen einige zusammenklebten. Es waren Aufnahmen von der AlgonquinMall, dem Einkaufszentrum Airport Hill und der Gateway Mall, alle von der Rückseite der Gebäude.
»Ich habe sie nur so überflogen«, sagte Delorme, »aber es sieht so aus, als ob er sich die Einkaufszentren vornehmen wollte.«
»Das passt aber gar nicht zu Woody.«
»Ja, soweit ich weiß, ist er immer nur in Häuser eingebrochen. Wir haben ihm nie etwas anderes nachweisen können.«
»Von der Gateway Mall ist nur ein Foto dabei, von den anderen beiden Einkaufszentren gibt es dagegen mehrere.«
»Auf den Fotos sind hauptsächlich die Parkplätze zu sehen. Vielleicht hatte er ein bestimmtes Auto im Auge?«
»Aber deshalb hätte
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