Gefrorene Seelen
sollte, wusste er nicht. Er würde abwarten, wie die Dinge sich entwickelten.
Eines Nachts blieb er so lange wach, bis sein Pflegevater wie ein Grizzlybär schnarchte. Dann zog er Jeans und T-Shirt und sogar Strümpfe an und schlich sich auf Zehenspitzen zu Janes Tür. Die Tür war nicht verschlossen, das wusste er. Keine Schlafzimmertür im Haus hatte ein Schloss.
Manchmal las Jane bis spät in die Nacht oder hörte Musik aus ihrem rosafarbenen Radio, doch diesmal war kein Licht unter ihrer Tür zu sehen. Eric wartete nicht einmal. Er drehte den Türknauf, trat ins Zimmer und zog die Tür wieder zu. Seine Augenhatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, deshalb erkannte er deutlich, wie sich Janes Hüfte unter der Decke abzeichnete. Sie hatte sich zur Wand hin zusammengerollt; ein Vorhang aus üppigem Haar verbarg ihr Gesicht.
Im Zimmer roch es nach Laufschuhen und Babyöl. Eric stand lange Zeit vollkommen regungslos und beobachtete, wie sich Janes Brustkorb hob und senkte, und lauschte dem leisen An- und Abschwellen ihres Atems. Sie schläft fest, dachte Eric, ich kann mit ihr machen, was ich will.
Er hielt die Hände gerade über die Konturen ihres Körpers, so als wäre sie ein Ofen und er könnte ihre Wärme auffangen. Er berührte ihr Haar, angelte sich eine Strähne, wickelte sie um den Zeigefinger und atmete den Duft ihres Shampoos.
Plötzlich stockte Janes Atem, und Eric verharrte regungslos. Du träumst nur, sagte er fast vernehmlich, es ist bloß ein Traum, kein Grund, aufzuwachen. Aber sie wachte doch auf. Sie schlug die Augen auf, und ehe Eric es verhindern konnte, setzte sie sich auf und schrie. Eric verschloss ihr den Mund, doch sie biss ihn in die Hand und schrie: »Mom! Dad! Eric ist in meinem Zimmer. Eric ist in meinem Zimmer!«
Es folgte eine lange Nacht der Tränen und des gegenseitigen Anschreiens, mit dem Ergebnis, dass man Eric seine Beteuerung, er habe geschlafwandelt, nicht glaubte.
Und so wurde Eric zu seiner großen Verwunderung aus seiner vierten und letzten Pflegefamilie hinausgeworfen, nicht etwa, weil er Hund und Katze der Familie zu Tode gequält hatte, und auch nicht, weil er das Feld des Nachbarn in Brand gesteckt hatte. Verstoßen wurde er schließlich wegen des angeblich kapitalen Verbrechens, seinen Fuß in das Zimmer seiner Pflegeschwester gesetzt zu haben.
Damit war das Kapitel der Pflegefamilien abgeschlossen. Fortan wurde er von einem Heim ins andere verfrachtet, wobei er rasch immer mehr verrohte. Noch mehr Haustiere verschwanden, noch mehr Brände wurden gelegt. Einen kleineren Jungen,der es gewagt hatte, sich über Erics Bettnässen lustig zu machen, fesselte Eric und schlug ihn mit einem Elektrokabel.
Wegen dieses Vergehens kam Eric zum dritten und letzten Mal vor das Jugendgericht in Jarvis. Nach dem Gesetz wurde er als jugendlicher Straftäter eingestuft und zur Besserung in die St. Bartholomew’s Training School in Deep River eingewiesen, wo er unter der Obhut der Christian Brothers bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr blieb.
Das einzig Gute an der Zeit in Deep River war für ihn, dass ein Mitinsasse mit Namen Tony ihm Gitarrespielen beibrachte. Nach der Entlassung aus St. Bartholomew zogen beide zusammen nach Toronto und gründeten eine Rockband. Da die anderen Mitglieder aber bessere Musiker als Eric waren, hatten sie ihn nach wenigen Wochen aus der Band geekelt. Er wechselte mehrmals den Job und zog in immer kleinere Zimmer um, bis er den Eindruck bekam, in Toronto den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ohne Freunde verbrachte er seine Abende allein mit Magazinen, die in unverfänglicher Verpackung mit der Post kamen. Seine Phantasien wurden schwärzer und schwärzer.
Toronto, so schien es ihm, war tödlich, er brauchte Luftveränderung. Er wollte in eine Gegend, wo es viel freie Natur gab und wo er nicht den Eindruck hatte, jeden Augenblick ersticken zu müssen. In seiner methodischen Art stellte er eine Liste verschiedener Kleinstädte mit ihren jeweiligen Vorzügen zusammen und grenzte seine Auswahl schließlich auf Peterborough und Algonquin Bay ein. Eigentlich wollte er beide Städte besichtigen, aber als er am Tag seiner Ankunft in Algonquin Bay das Schild »Aushilfe gesucht« am Eingang von Troy Music sah, gab das den Ausschlag. Eine Woche darauf begegnete er Edie im Drugstore und fühlte sich sogleich innerlich stärker. Die ersten Anzeichen bedingungsloser Ergebenheit, die er in ihren Augen las, gaben ihm die Gewissheit, dass dies ein
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