Gefrorene Seelen
diese Spur, dass die kleinste Unachtsamkeit sie zunichte machen konnte.
Cooper nahm das Klemmbrett unter einen Arm und blinzelte nach Westen die Straße hinauf, als ob dort ein leerstehendes Haus auftauchen könnte. »An der Main West? Nicht, dass ich wüsste. Aber vielleicht meinen Sie das an der Timothy Street.« Er schwenkte in die Ausgangsposition zurück, als hätte er sich auf den Hacken gedreht. »Die Adresse lautet nicht mehr Main West Street, aber es ist an der Ecke.«
»Ecke Timothy und Main Street? An der Eisenbahnlinie?«
Cooper nickte. »Genau da. Aber Jugendliche haben sich da nicht herumgetrieben. Das Haus ist zugenagelt. Seit zwei Jahren ist die Sache beim Nachlassgericht anhängig. Die Familie soll völlig zerstritten sein, wie ich gehört habe.«
»Vielen Dank, Mr. Cooper. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Hat das was mit dieser Windigo-Geschichte zu tun?«
Wie jeder andere in Algonquin Bay war Cooper über den Fall auf dem Laufenden. Gab es Verdächtige? War der Fall auf die Stadt begrenzt? Bestand die Möglichkeit, dass die Bundespolizei die Ermittlungen an sich zog? Man konnte den Leuten aus ihrer Neugier keinen Vorwurf machen. Ehe Cardinal wieder freikam, musste er sich die Theorie anhören, dass Satansjünger ihre Finger im Spiel haben könnten.
Er fuhr die wenigen Häuserblocks bis zur Timothy Street und setzte behutsam über die Schienen des Bahnübergangs. Auf der Nordlinie fuhren vor allem Güterzüge, die Öl nach Cochrane und Timmins brachten. Als Cardinal noch ein Kind war, hatte ihn dasPfeifen der Lokomotive, wenn der Zug die Timothy Street überquerte, jedes Mal aufgeweckt. Ein einsames, aber auch tröstliches Geräusch, wie der Schrei eines Seetauchers.
Das Haus war im viktorianischen Stil erbaut, mit einer rundumlaufenden Veranda. Der rote Backstein über den zugenagelten Fenstern war über die Jahre vom Ruß der Diesellokomotiven schwarz geworden, so dass das Gebäude nicht blind, aber schwarz bandagiert wirkte. Vom Dach hingen schwere Eiszapfen wie mittelalterliche Wasserspeier. Der für Algonquin Bay verhältnismäßig große Garten war von einer hohen Hecke umgeben.
Cardinal stieg aus dem Auto und stand auf dem Schnee, wo sich der Weg durch den Vorgarten befinden musste. Fußabdrücke waren nicht zu sehen, nur hieroglyphenartige Vogelspuren.
Die Stufen zur Veranda waren mit hart gefrorenem Schnee bedeckt. Cardinal hielt sich am Geländer fest und stapfte bis zur Haustür hinauf, die ebenfalls vernagelt war. Das Siegel des Notars war intakt. Am Türschloss hatte sich niemand zu schaffen gemacht. Er überprüfte die Fenster und tat das Gleiche auch auf der anderen Seite des Hauses.
Die Warnglocke des Bahnübergangs begann zu läuten, und während er die Hintertür untersuchte, ratterte ein Zug vorbei.
Wer in dieses Haus einbrechen wollte, würde es wahrscheinlich durch den Hintereingang versuchen: Dort war nichts außer der Hecke und dem Schienenstrang. Und Einbrecher hatten eine Vorliebe für Fenster im Kellergeschoss. Allerdings lagen die Kellerfenster unter Schnee begraben. Mit dem Absatz seines Stiefels grub Cardinal einen Graben parallel zur Rückseite des Hauses.
»Verdammt.« Er hatte sich die Wade an der Eiskruste aufgeschürft. Nach ungefähr einem Meter, gemessen von der Hausecke, stieß er auf die Oberkante eines Fensters. Nachdem er die Eiskruste entfernt hatte, schaufelte er den übrigen Schnee mit bloßen Händen weg.
»Treffer«, sagte er ruhig.
Das Provinzgericht in Algonquin Bay befand sich in der McGinty Street. Es war ein anspruchsloser moderner Backsteinbau, in dem man auch eine Schule oder eine Klinik hätte vermuten können. Vielleicht um diese Anspruchslosigkeit zu kompensieren, hatte das Schild, das die Bestimmung des Gebäudes angab, die Größe von Werbetafeln an Highways.
Die Dame am Empfang teilte Cardinal mit, dass Richter Paul Gagnon bis zum Mittag beim Verkehrsgericht sei und anschließend ein Arbeitsessen habe.
»Versuchen Sie bitte, mich noch dazwischenzuquetschen, es geht um den Fall Katie Pine.« Cardinal wusste, Gagnon würde ihm niemals einen Durchsuchungsbefehl wegen eines jugendlichen Ausreißers aus Mississauga ausstellen, der obendrein über sechzehn war. Er füllte den vorgeschriebenen Antrag aus, und während er auf das Ende der Gerichtssitzung wartete, rief er auf dem Präsidium an. Delorme war wegen Woody unterwegs und wurde frühestens in einer Stunde zurückerwartet. Cardinal hatte Gewissensbisse, sie von der Ermittlung
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