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Gefrorene Seelen

Gefrorene Seelen

Titel: Gefrorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Der Stuhl am oberen Ende des Tisches hatte als einziger Armlehnen, und der Bezug war erheblich stärker abgenutzt als bei den übrigen. Hatte der alte Herr noch lange nach dem Auseinanderbrechen der Familie an seinem Ehrenplatz gegessen? Hatte er hier gesessen und sich vorgestellt, seine Frau und seine Kinder wohnten immer noch bei ihm?
    Der Lichtkegel von Cardinals Taschenlampe fiel auf eine festgefrorene Schiebetür, die sich vermutlich zum Wohnzimmer hin öffnete. Er kehrte in die Küche zurück und ging die Treppe in die obere Etage hinauf.
    Die Schlafzimmer zeigten keine Spuren von Fremden. Er blieb kurz im Schlafzimmer des Hausherrn, dem letzten, das noch benutzt worden war. Auf einer antiken Kommode stand ein kleines Fernsehgerät, das man leicht hätte stehlen können.
    Das Medizinschränkchen im Badezimmer enthielt Antihistaminika, Abführtabletten, Gebissreiniger und eine große Flasche Desinfektionsmittel.
    Cardinal ging über die Haupttreppe in den vorderen Salon, wo ein altes Klavier den größten Teil des Raumes einnahm. Auf dem Klavier standen zwei reich verzierte silberne Kerzenleuchter, umgeben von Fotografien der Familie Cowart. Als er sich den Klavierdeckel genauer ansah, stellte er fest, dass die Leuchter von ihrem ursprünglichen Platz fortgerückt worden waren – ihr sechseckiger Fuß hatte Umrisse im Staub hinterlassen –, und die Kerzenstummel schienen erst vor kurzem abgebrannt zu sein. Also hatte sich jemand bei Kerzenlicht ans Klavier gesetzt. Möglicherweise Todd Curry. Der Deckel über den Tasten war von Fingerabdrücken übersät. Cardinal schauderte; vor Kälte taten ihm die Knochen weh.
    Das Wohnzimmer sah aus, als wäre es eine Kulisse für ein Theaterstück: zwei Sessel, ein Blumenständer mit vertrockneten Pflanzen, ein runder Teppich vor einem gemauerten Kamin. Der Kamin war benutzt worden. Die Asche von Holzscheiten lag auf dem Rost, bedeckt von einer Schicht Schnee. Ein Feuer brauchte man hier unbedingt. In einem Haus ohne Heizung und elektrischen Strom musste jeder, der sich hier im Dezember aufhalten wollte, als erstes Feuer machen. Der Feuerschein hätte allerdings das Wohnzimmer erleuchtet, und auch den Rauch hätte man von draußen sehen können. Ein normaler Mensch hätte das vermieden, aber, dachte Cardinal, ich suche ja nicht nach einem normalen Menschen, ich suche nach einem weggelaufenen jungen Drogensüchtigen und einem Kindermörder und nach Gott weiß was noch alles.
    Cardinal leuchtete mit der Taschenlampe über den Kaminsims und dann über ein großes Fernsehgerät. Über der Couch hing ein dunkles Ölgemälde, das Porträt eines schwarz gekleideten Mannes, eines Spaniers, dem kleinen Spitzbart nach zu urteilen. Ein schwarzer Samtumhang mit merkwürdigen Verzierungen hing ihm um die Schultern.
    Die Couch, die darunter stand, sah aus, als hätte jemand einen Kübel Farbe über die Rückenlehne gegossen. Das Muster des Bezugs war nicht mehr zu erkennen. Cardinal trat näher heran und sah, dass es keine Farbe, sondern Blut war, viel Blut.
    Er leuchtete mit der Taschenlampe direkt auf die Wand und erkannte, dass das, was er anfangs für ein Tapetenmuster gehalten hatte, in Wirklichkeit Blutstropfen waren – Tropfen, die nach oben gespritzt waren, als jemand mit einem schweren Gegenstand zugeschlagen hatte. Auch auf dem Gemälde sah er nun Blut. Das waren die merkwürdigen Verzierungen auf dem Umhang des Spaniers.
    Er stand vor der Couch und fuhr mit der Taschenlampe langsam von einem Ende zum anderen. Ein Kissen hatte keinen Bezug mehr. Ein Einbrecher hätte in dem Kissenbezug seine Beute wegtragenkönnen, aber wozu hatte der Mörder ihn benutzt? Er hatte weder die silbernen Leuchter noch den kleinen Fernseher mitgenommen, dachte Cardinal. Es geht ihm nicht um Geld.
    Cardinal zitterte vor Kälte – wenigsten dachte er, es wäre wegen der Kälte – und überlegte, wo der Mörder wohl die Leiche versteckt haben könnte. Nach draußen hatte er sie nicht geschleppt, dessen war sich Cardinal einigermaßen sicher, und in der oberen Etage hatte alles unberührt ausgesehen. Er kehrte ins Kellergeschoss zurück und wünschte sich sehnlich, mehr Licht zu haben.
    Dann blieb er vor einer niedrigen Tür unter der Treppe stehen. In alten Häusern fand man oft einen Vorratsraum für Kohlen unter der Treppe, obgleich heutzutage niemand mehr mit Kohle heizte. Im Staub waren Schleifspuren zu erkennen.
    Cardinal legte die Taschenlampe auf den Boden. Im Lichtschein sah er seinen

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