Gefrorene Seelen
windgeschützten Platz hinter dem Anglerladen, damit Eric eine Zigarette anzünden konnte. Er lehnte sich gegen die Holzwand und sah Edie aus schmalen Augen an. Sie konnte die Worte hören, die er bald sagen würde, noch bevor er sie aussprach, so als ob sie die ganze Szene bereits geträumt, als ob sie in ihrem Geist die ganze Szene mit Eric, dem Hafen, der Kälte und dem Rauch geschaffen hätte. Sie ahnte, dass sich in ihm die gleiche dunkle Erregung aufbaute wie in ihr. Sie roch es gleichsam, wie den metallischen Geruch des Eises, den der kalte Wind herübertrug. Der Anblick des Hauses und der Insel hatte ihre Nerven wieder unter Strom gesetzt. Sie zitterte vor Kälte, sagte aber nichts. Sie wollte diesen Augenblick nicht zunichte machen.
Sie kehrten zum Van zurück und drehten das Heizgebläse bis zum Anschlag auf. Die Wärme tat so gut, dass Edie laut auflachte.Eric holte ein Buch aus dem Handschuhfach und reichte es ihr. Es war ein großformatiges, abgenutztes Paperback, mit einem Aufkleber »Mängelexemplar« darauf.
Sie las den Titel. »›Die Geschichte der Tortur‹. Wo hast du das denn her?«
Er berichtete, er habe es bei seinem letzten Besuch in Toronto aufgestöbert. Eine historische Darstellung mittelalterlicher Folterinstrumente, die er schon lange gesucht hatte. »Lies vor«, sagte er. »Lies Seite siebenunddreißig.«
Edie blätterte die mit Fotos und Zeichnungen illustrierten Seiten durch. Auf den Fotos waren eine Streckbank, Peitschen und Daumenschrauben abgebildet, während die Zeichnungen die Anwendung der Geräte zeigten. Auch Haken, Zangen und Sägen waren zu sehen, mit denen Eingeweide herausgerissen, Fleisch gezwickt und Körper durchgesägt werden konnten. Letzteres war durch eine Zeichnung anschaulich gemacht, auf der zwei Schergen einen Mann vom Schritt bis zum Nabel durchsägten.
»Lies Seite siebenunddreißig«, wiederholte Eric. »Bitte. Ich habe es gern, wenn du mir vorliest. Du bist eine so gute Vorleserin.«
Er wusste, wie gut ihr solches Lob tat. Wie wenn man halb erfroren an ein prasselndes Kaminfeuer kam. Edie fand die Seite. Darauf war ein Helm zu sehen, der an einem Balken befestigt war. Über dem Helm befand sich eine Schraubvorrichtung.
»Schädelbrecher«,
las sie.
»Das Kinn des Angeklagten war an dem unteren Brett justiert. Mit jeder Drehung des Schraubganges schob sich der eiserne Helm nach unten und presste die Zähne gegeneinander, bis sie nach und nach in den Ober- bzw. Unterkiefer drangen. Bei noch höherem Druck traten die Augen aus den Augenhöhlen, und das Gehirn wurde durch die zerborstenen Schädelknochen nach außen gedrückt.«
»Ja. Das Hirn spritzt raus«, flüsterte Eric. »Lies noch was vor. Lies die Passage über das Rad.«
Eric hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Ediewusste, dass er sich selbst befriedigte, doch hütete sie sich, das zu erwähnen. Sie blätterte weiter durch die Abbildungen altertümlicher Eisengeräte und die Holzschnitte, auf denen die Opfer in ihrem Schmerz Gesichter wie in Comic Strips schnitten.
»Bitte, Edie. Lies über das Rad vor. Das kommt gegen Ende.«
»Du scheinst das Buch ja gut zu kennen. Muss wohl zu deinen Lieblingsbüchern gehören.«
»Könnte sein, ja. Vielleicht will ich es deshalb mit dir teilen.«
Oh, ich weiß, was kommt, Eric. Ich weiß, was du sagen wirst. Als sie die Seite endlich fand, spürte sie ein Pochen im Bauch wie von einem zweiten Herzen.
»Das Rad. Das entblößte Opfer wurde mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den äußeren Rand des Rades gefesselt. Unter allen wichtigen Knochen und Gelenken befanden sich Holzblöcke. Mit einer Eisenstange zerschlug der Folterknecht alle Gliedmaßen, wobei die Kunst darin bestand, das Opfer nicht zu töten.«
»Man hat die Leute zu Brei geschlagen«, kommentierte Eric, »aber immer schön darauf geachtet, dass sie die ganze Zeit am Leben blieben. Das muss ein irres Gefühl gewesen sein. Kannst du dir das vorstellen? Lies weiter.«
»Nach dem Bericht eines Augenzeugen wurde das Opfer in eine ›schreiende Gliederpuppe verwandelt, die sich in Strömen von Blut wand. Diese Puppe schien, einem Kraken gleich, vier schleimüberzogene, mit Knochensplittern durchsetzte Fangarme aus rohem Fleisch zu haben.‹ Nachdem alle Knochen gebrochen waren, flocht der Folterknecht Arme und Beine zwischen die Speichen des Rades. Anschließend wurde das Rad waagerecht auf einen Pfahl gesteckt. Aasvögel kamen und pickten dem Opfer die Augen aus und rissen
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