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Gefuehlsecht

Gefuehlsecht

Titel: Gefuehlsecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Russo
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einen anderen Schnitt auszuprobieren, dann kamen immer nur zwei Worte: »Bloß nicht!«
    Optisch gesehen war ich, zumindest bis gestern, eher wie Michelle Pfeiffer. Heute sehe ich aus wie Rod Stewart, vorne kurz, hinten lang. Und nicht nur das. Ich betrachte die Strähnchen, die mir der Friseur in die Haare gezaubert hat und denen ich todesmutig zugestimmt hatte. Honig, Karamell und ein wenig Sonne. Die Sonne strahlt so hell in meinen Haaren, dass von Karamell und Honig nicht mehr viel zu sehen ist. Ich bin wasserstoffblond, mit einem Stich Gelb, Sonnenblumengelb, um es charmant auszudrücken. Ich könnte schon wieder schreien. Und das Schlimmste ist, dass ich gleich zur Arbeit muss. Mittwoch ist mein fixer Bürotag beim Steuerberater.
    Schon immer habe ich während des Studiums gearbeitet. Meine Eltern konnten mich nicht finanzieren und ich hätte es auch gar nicht gewollt. Jetzt wäre meine Frisur allerdings ein Grund, meinen Job zu kündigen und gleichzeitig mein Studium zu schmeißen, um eine Auszeit für mindestens ein Jahr einzulegen. Warum nicht ins Ausland gehen? Dann können meine Haare in Ruhe nachwachsen, keiner kennt mich und ich muss vor allem Jürgen so nicht gegenübertreten. Vielleicht weiß ich ja nach dem Jahr auch endlich, was ich wirklich will.
    Ich, Barbara Blond, dreißig Jahre alt, stehe vor dem Spiegel und will mich erschießen. Und das nicht etwa, weil ich einsam bin, keine Freunde habe oder keinen Kerl abkriege. Nein, ich sehe keinen Ausweg mehr, weil ich beim Friseur gewesen bin und mich nicht traue, ihn umzulegen. Und dabei hat sich der Laden so gut angehört: Pierres Haarparadies. Haarhölle wäre treffender gewesen, dann wäre ich erst gar nicht reingegangen, aber ich blöde Kuh habe mir gedacht, Pierre hört sich irgendwie schwul an. Und schwule Friseure sind von Natur aus begabt, da kann nichts schiefgehen.
    Es ist schiefgegangen. Und zwar mächtig. Pierre ist alles andere, nur nicht schwul, und mittlerweile zweifle ich sogar daran, dass er überhaupt jemals eine Ausbildung zum Friseur gemacht hat. Aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Hier muss eine Bombendrohung her, und zwar für ganz Bottrop, so dass niemand mehr raus auf die Straße darf, ganz besonders ich nicht! Wie angewurzelt stehe ich vor dem Spiegel und strecke mir die Zunge raus. Da klingelt es an der Tür. Dreimal kurz, einmal lang. Mist, das kann nur Lena oder Marie oder meine Mutter sein. Die läuten nämlich alle immer gleich. Wenn ich Pech habe, stehen sie vielleicht sogar alle drei auf einmal vor der Tür, weil ich die letzten Tage auf ihre Anrufe nicht reagiert habe. Was soll’s, schlimmer kann es ja sowieso nicht mehr werden, denke ich, und öffne schwungvoll die Tür.
    Draußen steht meine kleine Schwester Marie. »Babsi? Ach du Scheiße!«
    »Du sagst es!« Ich stehe einfach nur da und lasse Marie lachen. Zwischendurch verstehe ich ein paar Brocken wie »Tut mir leid« oder »Ich kann nicht anders«.
    Wie gerne würde ich jetzt mit Marie tauschen. Ich habe schon lange keinen derartigen Lachkrampf mehr gehabt, dass mir dabei die Tränen über die Wangen liefen und ich mir den Bauch halten musste. Wenn ich mich nur nicht selbst so fürchterlich bemitleiden würde, könnte ich fast in das Gelächter mit einfallen.
    »Na, wenigstens siehst du jetzt nicht mehr aus wie Mutti«, prustet sie und schiebt sich an mir vorbei in die Wohnung.
    Wortlos reiche ich Marie ein Taschentuch. Mein Verstand läuft plötzlich auf Hochtouren, alle Alarmglocken läuten. Ich lasse den Satz von Marie in mir nachwirken … »Wie meinst du das? Wie Mutti?«
    »Na, ich finde, du bist ihr von uns allen am ähnlichsten. Lena ist wie Papa. Sie ist die Größte von uns und hat wie er einen Strubbelkopf und ein rechthaberisches Wesen. Du bist eben wie Mutti. Du hast Glück gehabt. Hast die schönen Haare, das feine Gesicht und ihre sanftmütige Art. Du gehst jedem Streit aus dem Weg und willst es allen recht machen.«
    »Na super, und du?«
    »Ich? Ich glaube, ich wurde adoptiert. Ich fall ja wohl ganz aus der Art, oder?«
    Stimmt. Marie passt optisch wirklich nicht so recht ins Familienschema. Sie hat zwar die gleiche zierliche Figur wie ich, jedoch die strubbeligen Haare meines Vaters geerbt, die ganz eigenartig in den verschiedensten Rottönen leuchten. Marie ist der einzige Rotschopf in unserer Familie weit und breit – bis auf irgendwelche entfernten irischen Verwandten väterlicherseits, die aber noch nie jemand von uns zu Gesicht

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