Gefuehlsecht
bekommen hat.
Wahrscheinlich hat Marie auch ihr Temperament von den Iren. Ich kann mich noch wie heute an ihren Gesichtsausdruck erinnern, als sie Lena vor vielen Jahren feierlich ein liebevoll eingepacktes Geburtstagsgeschenk überreichte. Sie stand da und guckte mit engelsgleichem Gesicht zu, wie Lena plötzlich ihre allerliebsten Turnschuhe in der Hand hielt, zersägt in jeweils zwei Teile. Und das kleine Luder hatte all das auch noch mit vielen bunten Schleifchen und Herzchen dekoriert. Ich weiß heute nicht mehr, worüber sich Marie damals geärgert hatte und warum sie die Dinger überhaupt zerteilt hatte, aber ich kann mich noch lebhaft an die vielen Tränen erinnern, die daraufhin geflossen sind. Ich stand wie immer mittendrin und hielt mich aus allem raus.
Lena und Marie haben sich oft gestritten und dann von mir verlangt, dass ich für eine von beiden Partei ergreifen soll. Das war natürlich schwierig, denn so war immer eine von beiden gegen mich. Deswegen habe ich mich weitestgehend vor einem Urteil gedrückt. Und mir insgeheim vorgenommen, Richterin zu werden, über alle Streitigkeiten erhaben zu sein und Gerechtigkeit auszusprechen. Auch fand ich die Vorstellung klasse, ein Stückchen höher als alle anderen zu sitzen und dass alle aufstehen müssen, wenn ich den Raum betrete. Ich würde mir alles anhören und in Ruhe alle Beweise und Fakten abwägen. Und ich hätte immer Recht!
»Jetzt mal ehrlich, Babs, du siehst wirklich schlimm aus. Allerdings passt dein blaues Auge zu deiner Frisur. Du erinnerst mich an Rocky nach einem Wettkampf. Hast du dich deswegen hier eingesperrt und gehst nicht mehr aus dem Haus? Ich konnte Mutti gerade noch zurückhalten, sonst hätte sie dir schon vor Tagen die Türe eingerannt … Boah, bin ich froh, wenn ich endlich zu Hause ausziehe. Ich muss immer alles ausbaden, was ihr beiden, du und Lena, verbockt habt, und es mir dann mindestens fünfmal hintereinander anhören!«
»Ich war gestern beim Friseur. Wollte halt nicht mehr so aussehen wie Mutti. So, jetzt weißt du’s. Und das blaue Auge habe ich von Maja. Aus Versehen natürlich.«
»Von Maja? Das passt! He, ich habe’ne gute Bekannte, die Uschi. Die ist ein bisschen schräg, aber sie kann genial Haare schneiden. Soll ich sie anrufen? Vielleicht kann sie ja noch was retten?«
»Ich muss aber jetzt ins Büro.«
»Spinnst du? Du kannst doch so nicht arbeiten gehen! Meld dich krank, Migräne oder so. Kommt der Sache doch schon ziemlich nahe.«
»Also gut. Noch schlimmer kann’s ja jetzt wirklich nicht mehr werden.« Frustriert bin ich ja sowieso schon ohne Ende.
»Uschi wird dir gefallen. Guck dir mal ihre Brüste an, die sind frisch gemacht. Uschi ist ganz stolz darauf!«
Na super! So wie es aussieht, habe ich ab heute einen festen Friseur, genau genommen eine Friseurin. Sie ist meines Wissens nicht schwul, aber sie hat frisch gemachte Brüste und zu allem Überfluss heißt sie auch noch Uschi! Und warum sollte ich sie mir überhaupt so genau ansehen? Ich habe kleine Brüste. Aber sie sind schön und passen zu meiner zierlichen Figur. Marie war vierzehn, da hatte sie schon eine Körbchengröße mehr als ich. Ich war damals achtzehn. Lena war zwanzig und sozusagen außer Konkurrenz, da sie gerade ihre Tochter zur Welt gebracht hatte und ihren Körper zwei riesige pralle Rubensbrüste zierten. Was die Größe meiner Brüste angeht, bin ich eisern. Ich habe lieber ein A-Körbchen, das zu mir passt, als ein D-Körbchen, das ich erst adoptieren muss, damit es zu mir gehört.
Kurz denke ich an die Examensarbeit, die interessanterweise zum Thema passt und die ich vor zweieinhalb Wochen abgegeben habe. Welchen strafrechtlichen Schutz genießen zu Lebzeiten dem Menschen implantierte medizinische Hilfsmittel mit Körperersatzfunktion? Wie ist das eigentlich rechtlich gesehen? Gehört eine Silikonbrust zum Körper? Was passiert, wenn jemand Uschis Brust kaputt macht? Ist das Körperverletzung oder Sachbeschädigung? Erfüllen Implantate, die rein aus optischen Gründen eingesetzt wurden, irgendwelche Körperersatzfunktionen? An mir ist alles echt. Und das soll es auch bleiben!
Hoffentlich versteht Uschi wenigstens ihr Handwerk. Auf Marie ist in solchen Fällen aber eigentlich immer Verlass. Sie kennt die besten Ärzte, bei denen man ohne langes Warten einen Termin bekommt. Sie weiß, wo man die coolsten Restaurants und In-Kneipen findet. Und mit Sicherheit kennt sie auch die besten Friseurinnen.
Marie hat Recht.
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