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Gefuehlsecht

Gefuehlsecht

Titel: Gefuehlsecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Russo
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dass Jürgen vorübergehend ausgezogen ist. Oder aber ich werde nicht darauf angesprochen. Was mir natürlich absolut recht ist. Die einzigen Kommentare, die ich mir anhören muss, gelten meiner Frisur. Jeder Neuankömmling begrüßt mich mit den Worten: »Der neue Haarschnitt steht dir aber gut!« oder »Das sieht aber flott aus!« oder »Macht dich um mindestens fünf Jahre jünger!«
    Aber auch daran haben unsere Gäste sich schnell gewöhnt und so nimmt die Party ihren Lauf. Es ertönt der Trinkspruch mit dem Hund und dem Schwein, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es auf 22 Uhr zugeht. Marie, Lena und ich grinsen uns an. Damit wäre die Hälfte der Feier geschafft.
    Da knufft Lena mich in die Seite und sagt: »Sag mal, hat Mutti dir erzählt, dass Jürgen heute da war?«
    »Jürgen? Was wollte der denn hier?« Sofort kriecht ein ganz eigenartiges Gefühl durch meinen ganzen Körper. Mist, ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass der heute hier auftauchen könnte.
    »Ach, der weiß halt, was sich gehört. Hat Vati gratuliert.«
    »Und, war eine von euch beiden dabei? Wie sah er denn aus?«
    Lena und Marie schütteln synchron ihre Köpfe. »Nö, der war wohl heute Morgen da, ganz früh. Hat angeblich’ne ganze Weile mit Mutti gesprochen«, sagt Lena mit Unschuldsmiene.
    »Na toll, da weißt du mal wieder mehr als ich. Hat sie dir denn auch erzählt, was sie so geredet haben?« Neugierig schaue ich sie an.
    »Nein. Und wenn sie ins Detail geht, dann würde ich ihr sowieso kein Wort glauben. Du weißt doch wie Mutti ist. Sie verdreht gern die Tatsachen. Bis am Ende alles ganz anders ist, als es wirklich war. Ich würde sie an deiner Stelle nicht fragen.«
    Aber das höre ich schon längst nicht mehr, denn ich habe mich auf der Stelle auf den Weg in die Küche gemacht, wo ich meine Mutter kurz vorher noch das Grillfleisch zubereiten gesehen habe.
    »Sag mal, war heute echt Jürgen hier? Du hast mir ja gar nichts gesagt!«
    Dass hier irgendetwas nicht stimmt, erkenne ich daran, dass meine Mutter sich auf einmal eine Spur zu intensiv um das hilflose Grillfleisch kümmert. Sie spießt es auf die Gabel, um es erneut in der Marinade zu wenden – und das bestimmt zum achten Male.
    »Ach, Babsilein, du bist es. Ja, Jürgen war hier. Aber nur ganz kurz. Sah schlecht aus, der arme Junge. Ganz blass und dunkle Ringe unter den Augen. Und er hat kaum ein Wort geredet.«
    Lena hat Recht! Das stimmt nie im Leben. Wahrscheinlich sah Jürgen ungemein gut aus und die beiden haben mindestens eine Stunde miteinander fröhlich gequatscht. Meine Mutter hat ihm bestimmt erzählt, dass ich mir aus lauter Verzweiflung die Haare habe abschneiden lassen und ohne ihn bald zur Säuferin, oder, schlimmer noch, gar zum Junkie mutieren werde. Wahrscheinlich weiß Jürgen auch, dass ich so um die fünf Kilo zugenommen habe, quasi völlig aus dem Leim gegangen bin, weil ich ohne ihn komplett lebensunfähig sei. Und wenn er nicht sofort zu mir zurückkomme, dann bekäme ich mein Leben gar nicht mehr in den Griff. Ich würde eine fette, alte, griesgrämige und bedauernswerte Frau werden. Was meine Mutter ihm wirklich erzählt hat, werde ich wahrscheinlich niemals erfahren. Wenn sie sich einmal festgefahren hat, dann bleibt sie auch dabei. Und zwar so lange, bis die Geschichte wirklich zur Wahrheit wird und sogar Jürgen irgendwann hundertprozentig dasselbe erzählt.
    Jürgen war also heute bei meinem Vater. Irgendwie ist das ja schon total süß. Es ist eben doch immer noch Verlass auf ihn. Jetzt habe ich ihn schon über eine Woche nicht mehr gesehen. Was wohl passiert wäre, wenn ich heute Morgen auch hier gewesen wäre? Und was, wenn Jürgen heute Abend hier noch einmal auftaucht? Immerhin ist er ja eingeladen. Auf diesen Schrecken muss ich mir ein Gläschen Schnaps genehmigen. Und dann direkt noch eines hinterher. Ehe ich dieses Anschlussvorhaben jedoch in die Tat umsetzen kann, stürmt Tante Hilde auf mich zu und drückt mir ein Blatt Papier in die Hand.
    »Da nimm, das singen wir gleich. Die Melodie von Marmor, Stein und Eisen bricht kennst du doch?«
    Natürlich kenne ich die Melodie, ich kenne sogar den ganzen Text auswendig! Das war eine Zeit lang mein absolutes Lieblingslied. Und zwar ziemlich genau kurz nachdem ich mit Jürgen zusammengekommen bin. Den Text habe ich ihm sogar mal als Liebesbrief geschickt. Vor etwa vier Jahren.
    Teufel aber auch! Bisher habe ich an diesem Abend nicht an Jürgen gedacht und jetzt werde ich gleich

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