Gefuehlsecht
Dort, wo ich es gestern Nacht hineingestopft habe, nachdem diese eigenartige SMS von Jürgen kam. Plötzlich fällt mir alles wieder ein. Oder habe ich das auch nur geträumt? Nein, das war schon echt. Ich rufe die Nachricht noch einmal ab und schüttle den Kopf. So ein Arsch! Wie gehe ich denn nun damit um? Zum Glück habe ich eine beste Freundin, die ich um Rat fragen kann. Ich wähle ihre Nummer.
»Maja? Gut, dass du schon wach bist. Ich muss dir unbedingt was erzählen.«
23
Und morgen regnet es bunten Regen
Ist ja klar. Wenn es mal wirklich wichtig ist, hat Maja natürlich keine Zeit. Ist mit Victor ausgeflogen. Also sitze ich alleine im Café des Essener Theaters und warte. Alle paar Minuten gucke ich auf meine Uhr, deren großer Zeiger sich so gar nicht bewegen will. In zehn Minuten ist es sieben Uhr. Vorsichtshalber habe ich mein schwarzes Kleid noch mal angezogen, damit ich unter den meist dunkel gekleideten Zuschauern möglichst nicht auffalle. Natürlich habe ich es noch glatt gebügelt, damit nicht jeder gleich sieht, dass ich darin geschlafen habe.
Zum Glück habe ich noch eine Karte für die Aufführung bekommen. Ganz hinten, in der letzten Reihe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich da neben Jürgen sitzen werde, ist gleich null. Letzte Reihe käme für ihn nie und nimmer infrage. Außerdem habe ich mir eine von diesen weißen Phantom-Masken gekauft, die man hier neben den Programmheften erwerben kann. Das Begleitheft habe ich jetzt zum dritten Mal durchgeblättert. Ich nippe elegant an meinem Champagner und beobachte aus dem Augenwinkel die Eingangstür des Theaters auf der Suche nach Jürgen.
Fünf Minuten später sehe ich sie. Frau Stankowicz, gehüllt in einen Traum aus rotem Chiffon, steht mitten im Foyer und winkt. Mit allem hätte ich gerechnet, nur damit nicht! Jürgen geht mit seiner Mutter ins Musical? Er hat sich auf sie gefreut? Und er schickt ihr nachts um eins Kurznachrichten? Auf diesen Schreck hin leere ich das Glas in einem Zug. Wahnsinn, wie schnell man zwölf Euro vernichten kann. Aber es wird noch besser: Nicht Jürgen, sondern eine andere Person eilt nun freudig auf Frau Stankowicz zu. Ich halte inne und lasse fast das leere Champagnerglas fallen. Die kenne ich doch irgendwoher. Natürlich, es ist … Natascha, Natascha Anastasia De la Soir! Das Büromäuschen aus der Kanzlei! Sie liegt in den Armen meiner zukünftigen Schwiegermutter, Küsschen hier, Küsschen da.
Jetzt könnte ich eine ganze Flasche Champagner gebrauchen. Und Onkel Karl und Maja oder besser noch Bruno. Das wäre doch mal ein interessantes Treffen geworden. Aber ich blöde Kuh sitze alleine hier im Café und beobachte mit großen Augen, wie sich auch noch Herr Stankowicz senior und Jürgen selbst zu den beiden sich sichtlich amüsierenden Damen gesellen. Was läuft hier denn für ein Film? Und zu allem Überfluss kommen sie jetzt auch noch direkt auf mich zu. Scheiße, da hilft nur eins. Ich halte mir die weiße Maske vor mein Gesicht und sprinte zum Klo.
Jetzt sitze ich wie festgewachsen auf dem Deckel und warte. Mist, die trinken bestimmt auch standesgemäß ein Gläschen Champagner. Das Stück beginnt erst in fünfzehn Minuten. Ich schließe die Augen und lehne mich seufzend zurück. Direkt gegen die Klospülung, die ich damit betätige. Was mache ich nur hier? Warum bin ich nicht einfach cool im Café sitzen geblieben? Dann wäre der Überraschungsmoment auf meiner Seite gewesen. Ob ich mal durch die Tür spähe? Vielleicht sind sie ja schon weg? Vorsichtig wage ich mich vor und sehe gerade noch rechtzeitig, wie Jürgens Mutter sich auf den Weg zur Toilette macht. Wumms! Wieder sinke ich ergeben auf den Klodeckel.
»Hallo?« Die Stimme von Jürgens Mutter ist unverkennbar. Jetzt spricht sie mich auch noch an! Ich verhalte mich mucksmäuschenstill.
»Sie haben Ihre Karte auf dem Tisch liegen lassen. Ich dachte, ich bringe sie Ihnen lieber, damit sie nicht verlorengeht. Sie sind jetzt schon so lange hier auf der Toilette. Ist Ihnen nicht gut?«
Super! Und was nun? Ob mich Frau Stankowicz trotz Maske und neuer Frisur vorhin erkannt hat? Ich brumme so etwas wie: »Mmh ja, alles okay«, und fange an, fürchterlich zu husten. Dabei schiebe ich meine Hand unter der Toilettentüre hindurch, in die die bestimmt verdutzt dreinblickende Frau Stankowicz die Eintrittskarte legt. »So was aber auch«, höre ich noch, da erklingt zum Glück der erste Gong, der die Besucher auffordert, ihre Plätze
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