Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
noch feuchten Fotos zur Ansicht ausgebreitet hatte, von denen fünf oder sechs auf der Haut von N. hafteten, schließlich in der Dunkelkammer, wo die Fotos wieder hinabfielen und eine Flasche Entwicklerflüssigkeit umstürzte.
Am nächsten Tag, noch vor der Mittagspause, rief Robert Wegner bei N. an, und sie verabredeten sich erneut. Somit waren sie ein Paar.
Die Art, wie N. beim Reden ihre Augen zusammenkniff, die Weise, wie sie manchmal verträumt auf ihre Unterlippe biss, ihre Leberflecken, ihr Gang, der immer ein wenig betrunken aussah, jedes Detail an N. bezauberte Robert Wegner, wobei er naturgemäß nicht wusste, weshalb. In einen Mann hatte er sich niemals verliebt. Seine Gewohnheiten änderte er erneut, was ihm dieses Mal nicht ganz so leicht fiel wie vor drei Jahren, als er sich in die andere Richtung umgestellt hatte.
Rasende Leidenschaft fühlte er eigentlich nur beim ersten Mal. Die nackte N. mit seinen Fotos, die auf ihrer Haut klebten, dieses Bild hatte sich tief in ihn eingebrannt, eine Phantasie, die ihn noch viele Jahre später, als er in langen Feuilletonartikeln als »Nestor der deutschen Fotokunst« gefeiert wurde, zuverlässig in einen Zustand der Erregung versetzte. Im Allgemeinen empfand er Sex mit N. als angenehme Verpflichtung, etwas, was man gerne tut, ohne dabei in Begeisterung zu verfallen, das Lösen von Kreuzworträtseln oder ungefähr wie Gartenarbeit. Wer einen Garten hat und diesen Garten liebt, sagte sich Robert Wegner, der muss nun einmal alle 14 Tage den Rasen mähen.
Von Zeit zu Zeit, höchstens einmal im Monat, besuchte er die Bars, die früher einen so wichtigen Platz in seinem Leben innegehabt hatten. Er hatte nicht das Gefühl, N. zu betrügen, dies hier war etwas völlig anderes. Bei N. wurde die Liebe mit großem Brimborium inszeniert, ein Hochamt ihrer Gefühle, es musste dazu eine ganz bestimmte Stimmung zwischen ihnen beiden herrschen, sie legte Musik auf, zündete Kerzen an, sie redeten vorher eine Weile miteinander. Es wurde ein Vorspiel von einer gewissen Dauer und sogar ein Nachspiel von Robert Wegner erwartet. Er hätte sich gewünscht, dass N. ihm diese Arbeit abnimmt, am besten komplett, oder dass zumindest alles etwas schnörkelloser vonstatten geht. Mit Kritik konnte N., wie er aus ihrer schroffen Reaktion auf seine vorsichtige Andeutungen entnahm, nicht gut umgehen.
An einem Dienstagnachmittag lief Robert Wegner beim Verlassen von Tom’s Bar N. direkt in die Arme. Er wusste, dass N. mit einem Team, Kameramann, Tonmann, Lichtmann, einen Einspieler für eine Show drehte, die sich noch im Planungsstadium befand. Sie sprach Passanten auf der Straße an und fragte, wer ihrer Ansicht nach fauler sei, ein Arbeitsloser oder ein Ausländer. Oder sie zeigte ihnen ein Jugendfoto von Bundeskanzler Kohl und fragte, ob der Mann auf dem Foto geistig krank oder geistig gesund sei. Die Fragen waren natürlich Unsinn. Die Passanten sollten den Unsinn nach Möglichkeit nicht bemerken und versuchen, auf den Unsinn mit all ihrer Kraft eine sinnvolle Antwort zu geben. Für ihre Befragung hatte sich N. nun ausgerechnet diese Straße ausgesucht.
Am Donnerstag fuhr Robert Wegner zur Frankfurter Buchmesse, um seinen ersten Bildband vorzustellen, der, wie er an diesem Tag noch nicht ahnte, ein Achtungserfolg werden würde. Er hatte sich Motive vorgenommen, die im Allgemeinen Gegenstand der Werbefotografie oder zumindest dekorativer Fotografie sind, gedeckte Tische, Strände, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, teure Autos. Er fotografierte sehr aufwendig, sehr edel, den Standards der Werbeindustrie entsprechend, platzierte aber in jedes Foto einen ernst blickenden nackten Menschen, der entweder alt war oder dick oder irgendwie hässlich und den er genauso ausleuchtete und genauso sorgfältig präsentierte wie das Auto oder die gedeckte Tafel. Dieses Arrangement war, wie Robert Wegner jederzeit selbstkritisch einzuräumen bereit war, nicht besonders subtil, später würde er, wie er hoffte, aber noch nicht wusste, originellere Ideen haben. Aber es etablierte seinen Ruf als zeitkritischer, ernst zu nehmender Künstler, und darum ging es ihm letztlich. Die Bilder waren, trotz der Modelle, schön, aber schön auf eine angenehm irritierende Weise. Man konnte sich das ohne Weiteres an der Wand einer Loftwohnung vorstellen.
N. hatte ihn, als sie ihn bemerkte, verwirrt angeschaut, dann hatte sie ihm kurz und scheinbar zerstreut zugenickt, »ach, hallo, Robert« gesagt und den Dreh
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