Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
fortgesetzt. Kurz bevor die Geschäfte zumachten, hatten sie wegen einiger Einkäufe kurz telefoniert. Erst am Abend brachte sie die Sache zur Sprache.
Er hatte N. die Wahrheit gesagt, zumindest im Groben. Die Umstellung, die nochmalige Umstellung, die gelegentlichen Rückfälle, die jetzt aufhören würden, denn N. sei für ihn, wie ihm erst jetzt richtig klar werde und weshalb er für den Vorfall geradezu dankbar sei, das Wichtigste überhaupt. Sie hatten sich innig umarmt, danach relativ leidenschaftlich geliebt. Das war alles halb so wild.
Robert Wegner konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte N. nicht als so großzügig eingeschätzt. Auf der Fahrt nach Frankfurt beschloss er, N. einen Heiratsantrag zu machen, bei nächster Gelegenheit.
Auch in Frankfurt lief es gut. Zwei Zeitungen und ein Radiosender interviewten ihn wegen des Bildbandes, drei Magazine fragten an, ob er für sie arbeiten wolle. Die Anfrage von »Essen und Trinken« lehnte er sofort ab, das konnten die nicht ernst meinen. Er machte keine Food-Foto-Scheiße, auch nicht anonym, wenn er so etwas machte, konnte er sein Image vergessen, in zwanzig Jahren vielleicht. Die Reportage über die Hungersnot in Äthiopien war eine andere Sache, so was wäre im Prinzip schon interessant. Aber Robert Wegner wusste, dass er Zeit brauchte, er arbeitete langsam, und er hatte auch wenig Lust, sechs oder acht Wochen in verkommenen afrikanischen Luxushotels mit kaputten Klimaanlagen und 200 Prostituierten vor der Tür abzuhängen. Bei Ryszard Kapuscinski und Peter Scholl-Latour konnte man lesen, wie fertig das einen machen kann.
Wer kreativ ist, muss sich die Bedingungen schaffen, die er braucht. Anders geht es eben nicht.
Am besten klang die Idee, Aidskranke in einem Hospiz zu fotografieren, und zwar vom Tag ihrer Einlieferung, falls man da »Einlieferung« sagt, bis zu ihrem Tod, ein Foto pro Woche oder pro Monat, je nachdem, wie lange es dauerte. Ein Reporter würde mit den Kranken reden, drei oder vier große Porträts schreiben, dazu die Fotos, wobei er die Freiheit hatte, seine Arbeit breiter anzulegen, also sieben oder acht Kranke zu fotografieren. Dabei kam garantiert ein starker Bildband heraus. Menschlich ist das sicher belastend, dachte Robert Wegner, aber es bringt einen auch weiter. Du musst reifen, als Persönlichkeit, als Künstler, und von den Rahmenbedingungen her ist es nicht halb so hart wie Afrika. Das Hospiz war in Hamburg.
Abends, im Hotel, rief N. an. Sie fragte ihn, ob er in letzter Zeit einen Test gemacht hätte. Darüber war noch gar nicht gesprochen worden. Sie war aufgeregt.
»Das ist ja witzig«, sagte Robert Wegner, »Mensch, du, zufällig hab ich heute schon mal mit dem Thema zu tun gehabt.« Er wollte anfangen, von dem Hospizprojekt zu erzählen, aber er merkte noch rechtzeitig, dass es nicht passte. N. war gerade auf einer ganz anderen Schiene.
»Den letzten Test hab ich vor drei Monaten gemacht«, sagte er, »seitdem kann nichts passiert sein, du kannst dich entspannen.«
Außerdem sagte er, dass er N.s Sorgen verstünde, es tue ihm, wie sie wisse, furchtbar leid, dass er ihr diese Sorge bereite. Sicher, der Test sei notwendig, aber sie könne wirklich ganz lässig dahin gehen, bloß eine Formalie, und so weiter.
N. war aber überhaupt nicht entspannt. Vor Angst hätte sie kein Auge zugetan. Sie klang vollkommen anders als vor zwei Tagen.
Robert Wegner war sich seiner Sache in diesem Punkt wirklich ziemlich sicher, er war schließlich nicht lebensmüde. Klar, hundertprozentige Sicherheit gibt es nie, siehe die Kernkraftwerke. So umfangreiche Sicherungen, wie es sie bei einem Kernkraftwerk gibt, waren bei ihm nicht eingebaut, aber diesen Gedanken behielt er für sich.
Am Ende des Gesprächs war N. wieder halbwegs ruhig, zumindest für den Augenblick. Um zwei Uhr rief sie wieder an, sie konnte nicht schlafen, sie hatte Angst.
Robert Wegner wusste nicht, was er Neues sagen sollte, er hatte nichts Neues auf der Pfanne. Also wiederholte er, mit schläfriger Stimme, was er am frühen Abend erzählt hatte. Das Gleiche tat er noch einmal um drei und um fünf Uhr. N. ging ihm auf die Nerven, obwohl er wusste, dass ein idealer Mensch in einer idealen Welt nichts anderes als Verständnis und Mitgefühl für N. empfinden würde.
Sie geht mir auf die Nerven, aber ich beruhige sie trotzdem, dachte Robert Wegner, das ist doch schon mal was.
Am nächsten Tag war er todmüde. Er traf sich im »Frankfurter Hof« zum Mittagessen mit dem
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