Gefühltes Wissen
Habta Watte inne Ohren, oder wat? Graciano Rocchigiani hab ick jesacht!!!
Die Menge zuckt einmal kurz mit den Schultern. Dann bricht sie in ohrenbetäubenden Jubel aus. Also doch ein Hardliner. Es ist der olle «Gratze», warum auch nicht? Dann tritt das neue Berliner Oberoriginal «Gratzi I.» vor. Er sieht sehr glücklich aus.
- Also jut, ooch ick bin nur 'n einfacha Arbeita im Ring von Berlin. Aber wenn mir eena blöde kommt, denn wirda schon sehen…
Die Menge ist außer sich vor Stolz und Freude. Gratzi I. hat offensichtlich genau die richtigen Worte gefunden, um die Herzen der Berliner direkt und im Sturm zu erobern. Berlin, nun freue dich!!!
Jeder hilft Berlin
Als ich aus dem U-Bahnhof Mehringdamm komme, unterhalten sich vor mir zwei Schüler aus Westdeutschland. «So, das ist jetzt also das berühmte Kreuzberg. Schon imposant.»
Ich will sie gerade fragen, was denn bitte schön ausgerechnet an der Kreuzung Mehringdamm/Ecke Yorckstraße imposant sein soll, da mischt sich ein Passant von hinten ein:
- Neenee, das hier is' dis bürgerliche Kreuzberg. Das berühmte Kreuzberg gibt's nich mehr. Hammse alles abgerissen. Steht jetzt der Potsdamer Platz drauf.
- Ach, und hier das Rauch-Haus und Mariannenplatz und so?
- Alles abgerissen.
Die Schüler schauen Hilfe suchend zu mir. Ich denke: «Was soll's?», und nicke:
«Hmmm, alles abgerissen.»
Die beiden sind erschüttert, aber interessiert. Jetzt greift der Passant die Hand eines der Jungen und führt beide ein Stück die Straße runter:
«Und hier», er zeigt auf den 50er-Jahre-Bau, «da hat er gewohnt. «
«Wer?»
Der Mann beugt sich tief zu ihnen herunter.
«Goebbels.»
«Was, der hat hier in Kreuzberg gewohnt?»
«Na klar, von hier hatte er es ja nich' weit zum Sportpalast, wo er jeden Tag seine Reden gehalten hat.»
Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob der Mann jetzt ein Spaßvogel oder ein Bekloppter ist, aber das tut ja auch nichts zur Sache. Irgendwie gefällt mir sein Spiel. Er legt schon wieder nach:
«Und zwei Stockwerke drüber», immer noch zeigt er auf den 50er-Jahre-Bau, «hat Alfred Schiertz die erste Heftklammer Europas erfunden. 1873. «
Wunderbar, jetzt will ich mich aber auch einbringen:
«Hmmm, damals waren die Heftklammern ja noch so groß wie DIN-A4-Blätter, aber durch den Fortschritt der Technik und neuartige Metalllegierungen konnte Schiertz dann seine Erfindung immer weiter verfeinern, bis er schließlich zu der kleinen Heftklammer kam, die wir noch heute schätzen und benutzen.»
Der Mann schaut mich erbost an:
«Quatsch! So 'n Blödsinn. Mannmannmann, in dieser Stadt laufen einfach zu viele Spinner rum.» Er geht verärgert weg.
Die beiden Jungs laufen ihm nach.
Schade, hätte ihm gerne weiter zugehört. Und zumindest mit den Spinnern hat er ja auch recht. Es heißt, eine normale Großstadt kann auf immerhin 1000 Einwohner einen Idioten vertragen. Dann ist gut und ausgewogen. Meist pegelt sich das auch für jede Stadt in etwa auf diesem Level ein. In Berlin jedoch ist durch das Metropolengeschwafel vor einigen Jahren und erst recht den Hauptstadtumzug der Idiotenanteil in der Stadt aufs Unnatürlichste angeschwollen. Und jeder kann sehen, was dabei rauskommt.
Zwei Tage später, am Nollendorfplatz, treffe ich den vermeintlichen Historiker wieder. Diesmal warte ich geduldig, bis er zwei australischen Touristen erklärt hat, wie Magnus Stiehl 1865 im Eckhaus den Radiergummi erfand. Nachdem die beiden Berlinbesucher weitergegangen sind, spricht er mich an.
«Hallo, entschuldige den rüden Ton von neulich, aber weißte, du hast zu dick aufgetragen. So hilfst du der Stadt nicht. Und darum geht es doch. Ich hab mir echt lange überlegt, wie ich Berlin in dieser Situation helfen kann, so pleite und hilflos, wie es ist. Und weil ich Geld in dem Sinne ja nicht habe, erzähl ich eben Besuchern Geschichten. Solche Geschichten.»
Ich lüge: «Ach so, verstehe. Und das hilft Berlin?»
Er zuckt die Schultern.
«Weiß nicht, vielleicht. Zumindest macht's Spaß. Früher hatte ich auch Geschichten mit Schauspielern, Schriftstellern oder bildenden Künstlern, aber Erfinder und erst recht Nazis kommen irgendwie besser an. Weiß auch nicht, wieso. Kann man nix machen. Die Menschen sind komisch.»
Ich nicke: «Ja, die Menschen sind komisch.»
Berliner Idyll 2
Am Morgen des 14. März war Heinrich Pallmann etwas albern zumute. Nachdem er aufgestanden war und sich angezogen hatte, stellte er den Wecker seiner Frau um zwei
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