Gegen alle Zeit
hatte Henry sie überrascht, indem er etwas völlig Unvorhersehbares und eigentlich Unsinniges getan hatte. Bess nutzte die Gelegenheit und lief geduckt von Grabstein zu Grabstein, bis sie schließlich das Chorgemäuer erreichte und von dort zur Sakristei und auf die Nordseite des Friedhofs gelangte. Von hier aus waren es nur noch ein paar Schritte zum Schandanger und dem kleinen Ulmenwäldchen, von dem die Küsterei umgeben war. Als sie sich dem Haus näherte, spürte sie ähnliche Beklemmungen wie vor zwei Tagen, als sie zum ersten Mal seit langer Zeit ihr Elternhaus aufgesucht hatte. Verstärkt wurden diese Beklemmungen, als sie die niedrige Haustür einen Spaltbreit offen stehend fand, aber niemand auf ihr mehrmaliges Klopfen und Rufen antwortete. Nach kurzem Zögern betrat sie das Häuschen, das einst ihr Zuhause gewesen war und ihr nun so fremd erschien, obwohl sich dem ersten Anschein nach nichts verändert hatte. In der Wohnstube war jedoch kaum etwas auszumachen. Das lag nicht allein an den Schatten der umstehenden Bäume, sondern auch an den Vorhängen aus Sacktuch, die vor beiden Fenstern hingen, als wollten sie mit aller Macht jegliches Licht fernhalten. Oder als solle das Innere des Hauses vor der Außenwelt abgeschirmt werden.
In dem Augenblick, als ihr dieser verstörende Gedanke kam, hörte sie eine leise und gebrechliche Frauenstimme aus einer dunklen Ecke des Raumes: »Dass du dich hertraust! Hast du noch nicht genug Unheil angerichtet, Elizabeth?«
Bess war überrascht und erschrocken, ließ es sich jedoch nicht anmerken und sagte: »Ich wollte Euch nicht stören, Mrs. Lyon. Ich hatte geklopft, aber es hat niemand geantwortet, und weil die Tür nicht …«
»Reicht es nicht, dass du Matthew vernichtet hast?«, unterbrach sie die Frau des Küsters, die in ihrer Ecke nur als dunkler Schemen zu erkennen war. »Willst du nun auch uns vernichten? Bist du deshalb zurückgekommen?«
»Was meint Ihr damit?«, wunderte sich Bess und stieß wie zufällig mit dem Fuß gegen die Tür, sodass sie krachend gegen die hintere Wand schlug und gleich wieder zufiel. Das einfallende trübe Licht hatte nur einen Wimpernschlag lang die Stube in ein Zwielicht getaucht, aber die Zeit hatte Bess gereicht, um zu verstehen, was mit Mrs. Lyon nicht stimmte. Sie saß zusammengesunken in einem Lehnstuhl, ihr Gesicht war eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Nase ragte unnatürlich weit heraus. Das Auffallendste aber waren die Lippen und der Nacken, die verformt und wie aufgeblasen wirkten und von wulstigem Schorf überwuchert waren. Wie aufgebrochene Pestbeulen, nur ohne den Gestank. Die Skrofeln hatten Mrs. Lyons Gesicht entstellt. Das sogenannte »Übel des Königs«, das angeblich nur durch Handauflegen des Monarchen geheilt werden konnte. Und vermutlich war das der Grund, warum die Fenster der Küsterei mit Sacktuch verhangen waren.
»Pass doch auf, verdammt!«, schrie die Küstersfrau und hielt sich die Hand vor die Augen, als hätte sie gleißender Sonnenschein geblendet.
»Entschuldigt, Ma’am!«, sagte Bess und wiederholte ihre Frage: »Was meint Ihr damit? Wieso sollte ich Euch vernichten wollen?«
»Deine törichten Fragen sind nicht ohne Folgen geblieben«, wisperte Matthews Mutter und setzte knurrend hinzu: »Der Chelsea-Sergeant hat dem Herzog berichtet, was auf dem Friedhof geschehen ist. Und Chandos hat Andrew zu sich bestellt, um ihm die Leviten zu lesen. Er ist gerade beim Herzog, und wir können froh sein, wenn wir nicht aus dem Haus gejagt werden. Alles nur wegen dir!«
»Der Herzog kann dem Küster von Whitchurch keine Weisungen erteilen, er ist nicht sein Dienstherr«, erwiderte Bess und war sich der Naivität ihrer Worte im gleichen Augenblick bewusst. »Außerdem hat Euer Mann nichts Unrechtes getan.«
»Ha!« Die Alte lachte gallig und verschluckte sich, sodass ihr Lachen in böllernden Husten überging. Bess wollte ihr zu Hilfe kommen, doch Mrs. Lyon keuchte: »Bleib, wo du bist, du Hexe! Rühr mich nicht an!« Schließlich bekam sie wieder Luft und fügte flüsternd hinzu: »Auch Matthew hat nichts Unrechtes getan. Und dennoch ist er tot. Mit Recht oder Unrecht hat das gar nichts zu tun.«
»Verzeiht!«, sagte Bess leise und beschämt.
»Wir hätten niemals ins Küsterhaus ziehen dürfen. Das war nicht recht«, murmelte Mrs. Lyon, und es hörte sich an, als seien ihr die Worte wider Willen entschlüpft. Sofort machte sie ihren Anfall von Schwäche wett, indem sie
Weitere Kostenlose Bücher