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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Bess angiftete: »Was willst du noch hier? Scher dich zum Teufel, Elizabeth! Du machst alles nur noch schlimmer.«
    »Beantwortet mir nur noch eine Frage, Ma’am, dann seid Ihr mich für immer los. Das verspreche ich.«
    Die alte Frau antwortete mit einem eisigen Schweigen, das Bess als Einwilligung verstand. Sie fragte: »Wer ist der Bischof von Rochester?«
    Mrs. Lyon lachte überrascht auf. Mit dieser Frage hatte sie offensichtlich nicht gerechnet, und sie antwortete nach einem belustigten Schnaufen: »Sein Name ist Samuel Bradford. Wieso willst du das wissen?«
    »Der Bischof von Rochester hat Matthew getötet.«
    »Unfug!«, krächzte die Küstersfrau. »Bradford war doch damals noch gar nicht Bischof. Er ist erst seit …« Sie hielt plötzlich inne, murmelte etwas Unverständliches, verfiel dann in Schweigen und wiederholte schließlich, aber weit weniger überzeugt: »Unfug!«
    Im selben Moment öffnete sich die Haustür, und der Küster betrat die Stube. Mr. Lyon fuhr erschrocken zusammen, als er Bess vor sich stehen sah, doch rasch fasste er sich wieder, reckte sich, als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen, und deutete zur Tür: »Geh fort, Liz! Ich darf nie wieder ein Wort mit dir wechseln. Geh, wenn dir unser Wohl und Matthews Andenken etwas bedeuten!«
    Bess nickte und sagte: »Lebt wohl!« Sie zwängte sich an Mr. Lyon vorbei zur Tür. »Ihr werdet mich nicht wiedersehen. Ich wünsche Euch alles Gute.« Und mit diesen Worten verließ sie ihr altes Zuhause – diesmal für immer.

11

    Der Friedhof lag verlassen in der bleichen Morgensonne. Henry war nirgendwo zu sehen, auch der Doktor und der Reverend waren verschwunden. Dafür stand die schwere Holztür auf der Westseite des alten Kirchturms weit offen, und obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun sollte, betrat Bess die kleine Turmkapelle, die an ihrem hinteren Ende zum Treppenhaus der Kirche führte. Als sie die niedrige Tür unter der Wendeltreppe sah, hinter der sie sich so oft mit Albrecht Niemeyer vergnügt hatte, wurde ihr ganz heiß und mulmig zumute. Ein leichter Schwindel befiel sie. Nicht vor Erregung, sondern vor Scham. Heute konnte sie sich kaum noch vorstellen, wie einfältig und naiv sie gewesen war. Dass ihr Handeln unmoralisch und lasterhaft gewesen war, bekümmerte sie dabei weniger – seit damals hatten sich ihre Vorstellungen von Moral und Laster grundlegend geändert –, aber dass sie Albrecht gegenüber so gutgläubig und unbedarft gewesen war, ärgerte sie immer noch. Sie konnte es sich nicht verzeihen, dass sie sich wie ein dummer kleiner Backfisch verhalten hatte.
    Ein säuselnd pfeifender Ton aus der Kirche riss sie aus ihren Gedanken, und als sie unter der Herzogsloge hindurch das hell erleuchtete Langhaus der Kirche betrat, erschallte plötzlich ein dröhnender Akkord von Orgeltönen, der das Gebälk der Kirche vibrieren ließ. Sie schaute zum Altar und dem dahinterliegenden Chorraum, in dem an prominenter Stelle die Orgel stand. Schon allein die Tatsache, dass das Musikinstrument erhöht hinter dem Altar und nicht wie bei anderen Kirchen auf einer dunklen Empore über dem Eingang stand, ließ erkennen, welchen Rang die Musik in dieser Kirche einnahm. Oder besser eingenommen hatte. Wo andernorts der gekreuzigte Herr Jesus hing, stand in Whitchurch die Orgel des Mr. Händel, umgeben von prächtigen Wandgemälden und umrahmt von hölzernen Säulen und einem mächtigen Bogen. Wie auf einer Theaterbühne. Gerade so, als hätte man den Chorraum um die Orgel herumgebaut.
    Vor dem Spieltisch, mit dem Rücken zum Langhaus, saß Dr. Arbuthnot und ließ dem anfänglichen Tusch eine Reihe schiefer Töne folgen, in der Bess vergeblich eine Melodie zu erkennen suchte. Schon bald ging der Orgel die Puste aus, und die Pfeifen gaben einen letzten quäkenden Ton von sich, bevor sie verstummten.
    »Soll ich Euer Balgtreter sein, Dr. Arbuthnot?«, rief Bess und klatschte wie zum Hohn in die Hände.
    Dr. Arbuthnot drehte sich auf seinem Stuhl um, blieb aber vor der Orgel sitzen. »Macht Euch nicht über mich lustig, Mrs. Lyon!«, erwiderte er. »Dass ein Banause wie ich auf einer Orgel wie dieser spielt, erscheint mir auch ohne Euren Spott wie Blasphemie. Der gute Maestro Händel würde seine Hände über dem dicken Kopf zusammenschlagen, wenn er es wüsste.«
    »Oder Maestro Pepusch?«, fragte Bess.
    »Ja«, antwortete der Doktor knapp. »Der vermutlich auch.«
    Eine peinliche und lange Pause entstand. Keiner sagte etwas,

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