Gegen alle Zeit
keiner rührte sich vom Fleck. Dann klopfte sich der Doktor plötzlich auf die Oberschenkel und sprang auf die Beine. Er kletterte von der Orgelbühne und näherte sich Bess, die reglos am hinteren Ende des Mittelgangs stand, mit raschen Schritten.
»Ich hatte gehofft, Euch nicht mehr zu sehen«, sagte Dr. Arbuthnot, als er schließlich vor ihr stand. »Dabei ist mir Euer Anblick durchaus nicht unangenehm. Ich hatte allerdings gedacht, Ihr wärt etwas vernünftiger. Und vorsichtiger.«
»Ihr wollt doch hoffentlich nicht behaupten, dass Ihr Angst vor mir habt, Sir«, lachte Bess und wunderte sich, als der Doktor sie plötzlich am Ellbogen fasste und beinahe grob ins Treppenhaus schob.
» Vor Euch nicht«, antwortete der Doktor, »aber um Euch. Glaubt mir, Ihr solltet Cannons schleunigst verlassen. Ihr befindet Euch wortwörtlich in der Höhle des Löwen. Ich weiß nicht genau, was man Euch vorwirft, aber man führt etwas gegen Euch im Schilde. Heute früh war der Gutsherr von Edgworth beim Herzog, und wenn ich mich nicht völlig irre, wart Ihr der Anlass dieses Treffens. Reverend Desaguliers war ebenfalls zugegen. Das Triumvirat hat über Euch zu Gericht gesessen.«
»Ist das nicht etwas zu viel der Ehre, um einer ehemaligen Dienstmagd zu Leibe zu rücken?« Bess versuchte, den spöttischen Ton beizubehalten, doch das anschließende Lachen missriet ihr, und als sie den finsteren und beinahe wilden Ausdruck in Dr. Arbuthnots Gesicht sah, versiegte es völlig.
»Bringt Euch in Sicherheit, Ma’am!«, sagte der Doktor mit Nachdruck und hielt gleichzeitig Bess’ Hand in der seinen. »Unverzüglich! Bevor es zu spät ist.«
Bess nickte ernst, doch bevor sie die Kirche durch den Turmeingang verließ, fragte sie: »Wo ist eigentlich Henry Ingram geblieben?«
»Ingram?«, wunderte sich der Doktor. »Meint Ihr den naseweisen Kerl mit dem vorlauten Mundwerk? Ist er ein Freund von Euch?«
Bess zögerte kurz und sagte dann: »Ja, ein guter Freund.«
»Hätte ich mir eigentlich denken können! Ein interessanter Mensch, aber reichlich sonderbar.« Dr. Arbuthnot begleitete Bess hinaus, schaute vorsichtig zur Seite und deutete dann zur Straße. »Mitten im Gespräch hat er Reißaus genommen. In dem einen Augenblick redet er vom Theater und wie es seiner absurden Meinung nach in der Zukunft aussehen wird, und im nächsten Augenblick fährt er zusammen und rennt davon, als wäre er dem Leibhaftigen begegnet. Ohne ein Wort der Erklärung.«
» Ist er jemandem begegnet?«, wollte Bess wissen.
Dr. Arbuthnot zuckte mit den Schultern und schob bedauernd die Unterlippe vor. »Zwei junge Schlachterburschen ritten auf ihren Pferden vorbei, aber sonst habe ich niemanden gesehen.« Dann hob er zum Abschied die Hand und rief: »Rasch! Ab mit Euch! Bevor der Reverend sein Morgengeschäft erledigt hat.« Er grinste schelmisch und setzte augenzwinkernd hinzu: »Und bevor ich mir wieder seine ermüdenden Ausführungen über die Bewässerung des herzoglichen Rasens anhören muss.«
Bess lief zum Sandweg, drehte sich aber noch einmal um und fragte: »Wieso warnt Ihr mich? Erst vor Kurzem habt Ihr dem Herzog von mir erzählt und seine Chelsea-Veteranen auf mich gehetzt.« Und als ahne sie, was er darauf erwidern würde, fügte sie hinzu: »Ihr braucht es gar nicht abzustreiten.«
»Manchmal ist es sinnvoll, mit den Wölfen zu heulen«, antwortete der Doktor und ließ für einen Augenblick sein Lausbubengrinsen verschwinden. »Auch wenn man selbst nicht zur Meute gehört. Oder gehören möchte.«
Bess wandte sich kommentarlos um und eilte auf die Straße, wo sie erneut vergeblich nach Henry Ausschau hielt. Dann raffte sie ihr Kleid und lief schleunigst zum Little Stanmore Inn. Um ihre Sachen zu packen.
12
Der Gasthof lag noch genauso verschlafen und verträumt da wie am frühen Morgen. Nichts hatte sich geändert, keine Pferde oder Kutschen standen vor dem Inn, nichts regte sich auf dem Hof, keine Menschenseele war zu sehen, nur einige Hühner scharrten im Dreck und suchten nach Fressen. Alles wie gehabt. Und doch war Bess beim Anblick der Schänke wie alarmiert und aufgeschreckt. Es war eben nicht mehr früher Morgen, sondern beinahe Mittag; das Little Stanmore Inn erschien ihr schlichtweg zu ruhig und leblos für die Uhrzeit. Als läge es auf der Lauer und hielte den Atem an.
Bess musste an Dr. Arbuthnots Worte von der Wolfsmeute denken und kam sich mit einem Mal wie ein Schaf vor, das gerissen werden sollte. Dennoch näherte
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