Gegen alle Zeit
sie sich dem Inn, als würde sie von einer höheren Macht gelenkt und hätte keinen eigenen Willen mehr. Sie musste ihre Tasche holen, redete sie sich ein, sämtliche Kleider waren darin, und zu allem Überfluss hatte sie ihren Geldbeutel unter der Matratze liegen lassen. Sie hatte keine andere Wahl! Zugleich aber wusste sie, dass sie besser auf der Stelle Reißaus nähme. Wie Henry es anscheinend getan hatte.
Als wäre der bloße Gedanke an ihn der Auslöser gewesen, hörte sie im gleichen Augenblick Henrys gepresste Stimme hinter sich: »Bess! Bleib stehen! Geh nicht rein! Bess!«
Sie wandte sich um und sah eine winkende Hand aus einem Dorngebüsch auf der anderen Seite des Sandweges herausragen. Schnell schlich sie hinüber, zwängte sich durch das Dickicht und hockte sich neben Henry hinter den Brombeerbusch, der in einem vertrockneten Entwässerungsgraben wucherte.
»Was soll das?«, fragte sie. »Was treibst du hier?«
»Jack ist hier«, antwortete er flüsternd und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Zusammen mit William Page. Ich hab sie gerade gesehen.«
»Wo?«
»Vor der Kirche. Sie haben sich als Schlachter verkleidet.«
»Jack als Schlachter?« Bess musste unwillkürlich lachen. »Was soll der Unsinn?«
»Das ist kein Unsinn«, erwiderte er mit finsterer Miene. »Williams Vater ist Schlachter am Clare Market. Ich war im Black Lion dabei, als die beiden die Schlachterkleidung angezogen haben. Zur Tarnung. Glaub mir, Jack und Will sind in Little Stanmore! Auf Geheiß von Mr. Wild, wie ich vermute. Frag mich nicht, wie sie hergekommen sind oder uns gefunden haben. Entweder hat der Wirt sie benachrichtigt, oder sie sind mir heimlich aus London gefolgt.«
Bess musste an die beiden Reiter denken, die sie am gestrigen Abend bei der Ankunft der Postkutsche an der Mautstation gesehen hatte und die sich anschließend in Luft aufgelöst hatten. Sie nickte und fragte: »Aber was wollen sie von uns?«
»Erinnerst du dich, was ich dir von dem Gespräch zwischen Jack und Mr. Wild in Covent Garden erzählt habe?«
Natürlich erinnerte sie sich. Wie sollte Bess das je vergessen?
Henry ergriff Bess’ Hand und fuhr fort: »Bis eben hab ich gedacht, Jack und Mr. Wild hätten es auf Blueskin abgesehen. Weil das Haus in der Dirty Lane gebrannt hat und ich Jack dort über den Weg gelaufen bin. Aber das war vermutlich ein Fehlschluss. Es ging gar nicht um Blueskin, jedenfalls nicht in erster Linie. Es geht um dich, Bess! Mr. Wild hat Jack auf dich angesetzt, und der nette Jack rächt sich nun dafür, dass du ihn damals an den Diebesfänger verraten hast.«
Bess wollte etwas sagen, ihm widersprechen, ihn auslachen, doch ihr blieben die Worte und das Lachen im Halse stecken. Sie wollte das nicht glauben, aber welchen Grund hätte Henry, sie anzulügen? Sie räusperte sich schließlich, schüttelte Henrys Hand ab und fragte: »Wo sind die beiden jetzt?«
»Sie sind vor einer Viertelstunde im Inn verschwunden.« Henry wies mit einem Kopfnicken in Richtung Gasthof und setzte hinzu: »Sie warten auf dich!«
Bess schaute zum Inn und suchte das Fenster ihres Zimmers. Da die Sonne nun genau über dem Haus stand und die Nordseite im Schatten lag, war kaum etwas hinter der Scheibe zu erkennen. »Bist du sicher?«, fragte sie.
Henry schien es nicht für nötig zu halten, auf diese Frage zu antworten, und sagte stattdessen: »Ich ahne inzwischen auch, worum es bei der ganzen Sache geht.«
»Tatsächlich? Du meinst den Bischof von Rochester?«
Henry nickte. »Der Doktor war so freundlich, mir seinen Namen zu sagen. Ich hab ihn ganz beiläufig danach gefragt, und er war so nett, mir zu antworten. Der Bischof sei ein guter Freund von ihm, hat Dr. Arbuthnot behauptet. Und überhaupt ein Freund der englischen Literatur.«
»Der Doktor hat dir den Namen einfach so gesagt?«
»Warum nicht? Ist ja schließlich kein Geheimnis. Auch wenn der Reverend gar nicht erfreut darüber schien und dem Doktor am liebsten den Mund verboten hätte. Aus gutem Grund, wie ich annehme.«
»Der heutige Bischof heißt Samuel Bradford«, sagte Bess nachdenklich, »aber der war vor drei Jahren noch gar nicht im Amt.«
»Der damalige Bischof hieß Francis Atterbury. Sagt dir der Name was?«
»Nein«, wunderte sich Bess. »Kennst du ihn etwa?«
»Allerdings.«
»Woher?«
»Aus dem Geschichtsunterricht.«
»Was soll das nun wieder?«, schimpfte Bess und stieß Henry mit der Faust gegen den Oberarm. »Willst du mich verscheißern, oder
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