Gegen alle Zeit
Jacks Freund.«
»Sicher«, sagte Henry, trank einen Schluck Porter und starrte auf seinen Teller. »Das war er. Aber gilt das auch umgekehrt?«
Bess wartete darauf, dass er fortführe, dass er seine Anschuldigungen erläutern würde oder irgendwelche Einzelheiten preisgäbe, doch stattdessen frühstückte er weiter, als hätte er Jacks Namen nie fallen gelassen. Und Bess begriff mit einem Mal, dass er sie niemals ins Vertrauen ziehen würde, wenn sie ihm nicht ihrerseits vertraute. Dass er sich nicht verteidigen würde, weil er nicht gewillt war, sich angreifen zu lassen.
»Also gut, Henry«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine, mit der er gerade das Messer zum Mund führen wollte. »Und was folgt daraus?«
»Das habe ich doch schon erzählt«, antwortete er gereizt. »Das Haus in der Dirty Lane ist abgebrannt. Und Blueskin ist in den Flammen umgekommen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Jack das Feuer gelegt hat?« Sie sah seinem finsteren Gesichtsausdruck an, dass er genau das glaubte, und fragte: »Aber wieso?«
»Das Hemd ist ihm eben näher als der Rock.«
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?«, erboste sie sich und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass sich die anderen Gäste nach ihr umschauten. »Kannst du nicht reden wie ein normaler Mensch?«, setzte sie flüsternd hinzu.
»Jack hat Blueskin ans Messer geliefert, um sein eigenes Leben zu retten«, antwortete Henry und verzog keine Miene. »Und Hope hat ihm als Lockvogel gedient, um Blueskin in die Falle zu locken.«
Bess dachte eine Weile darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Jack konnte schließlich nicht ahnen, dass Blueskin sich wie ein Verrückter in die Flammen stürzen würde.«
»Das nicht«, antwortete Henry nickend. »Ich glaube auch nicht, dass das von Jack oder Mr. Wild so beabsichtigt oder vorhergesehen war. Sie wollten Blueskin aus der Reserve locken. Und das haben sie wahrhaftig geschafft.«
»Aber warum dieser plötzliche Sinneswandel bei Mr. Wild? Wieso lässt er von Jack ab, nur um Blueskin an den Kragen zu gehen.«
»Wegen vorletzter Nacht.«
»In Wilds Haus«, ergänzte Bess und verstand nun, was Henry gestern mit seinem Gestammel von der Schuld gemeint und weshalb er sich selbst für einen Mörder gehalten hatte. Weil er Blueskin dazu überredet hatte, Bess aus dem Beichstuhl in der Chick Lane zu befreien. Sie schaute Henry direkt an und sagte: »Du gibst mir die Schuld an Blueskins Tod. Wäre ich nicht gewesen, hätte das alles nicht geschehen müssen. So ist es doch, oder?«
Er schüttelte den Kopf, doch es wirkte halbherzig und zögerlich. Dann sagte er: »Das Problem bin ich , Bess. Ich mische mich in Sachen ein, die mich nichts angehen. Ich bin ein Schauspieler, der sich nicht an seinen Text hält. Und dadurch gerät alles aus den Fugen.«
»Weil du mich magst«, erwiderte Bess und dachte an die letzte Nacht.
»Auch«, antwortete er und schob mit einem Ruck den Teller von sich. »Aber es ist alles viel komplizierter. Wenn ich dir erzählen würde, was tatsächlich mit mir los ist und woher ich komme, würdest du mich für durchgeknallt halten.«
»Ich weiß nicht, was du mit ›durchgeknallt‹ meinst, aber ganz bestimmt halte ich dich für verrückt. Und woher du kommst, hast du mir längst verraten: Lambeth Marsh! Von dort ist noch nie was Gescheites gekommen.« Sie lachte verkrampft, klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch und stand auf. »Und jetzt komm! Ich will zur Kirche.«
Henry war die Erleichterung darüber anzusehen, dass Bess nicht weiter in ihn drang und keine womöglich peinigenden Erklärungen verlangte. Er wischte sich das fettige Kinn am Hemdsärmel ab und folgte Bess nach draußen.
10
Auf dem Weg nach Whitchurch berichtete Bess das wenige, das sie in Edgworth und Little Stanmore in Erfahrung gebracht hatte. Sie erzählte von Dr. Arbuthnot und der Südseeblase, von Mr. Milton, dem Stallknecht, der plötzlich seine Meinung geändert und dafür vom Wirt belohnt worden war, und von dem ominösen Bischof, den Violet erwähnt hatte. Bess beendete ihre Ausführungen mit der Frage: »Kennst du den Bischof von Rochester?«
Henry schüttelte den Kopf. »Die Frage sollte vielmehr lauten: Kannte Matthew ihn? Oder kannte der Bischof deinen Mann? Wenn ja, woher? Was hatte der Bischof im Inn zu suchen? Und wieso wurde das Matthew zum Verhängnis?«
Bess nickte. Genau diese Fragen waren ihr seit gestern beinahe pausenlos durch den Kopf gegangen.
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