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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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das hier ’n Irrenhaus.«
    »Du weißt, was Mr. Wild gesagt hat«, erwiderte Seamus und befahl: »Bleib du hier, ich schau im anderen Hof nach. Nur zur Sicherheit.«
    Blueskin löste den Knoten des Seils, schlich zur Giebelseite des Hauses und schaute vorsichtig durch die Öffnung. Unter ihm ging der Wächter gerade zwischen Baugerüst und Stadtmauer hindurch in den vorderen Hof und schaute sich suchend um. Er bemerkte die offen stehende Tür zur Latrine, zog ein kurzes Schwert aus dem Gürtel, ging hinein, kam kurz darauf wieder heraus, schloss die Tür und verharrte mit gezückter Waffe an Ort und Stelle.
    Mist!, dachte Blueskin und schaute nach Osten, wo sich der Himmel am Horizont unmerklich erhellte. Noch war der Sonnenaufgang fern, aber wenn er weiter hier oben auf dem Dach verweilte, würde er unweigerlich entdeckt werden. Aus den oberen Stockwerken des Hospitals war er wie auf einem Präsentierteller zu sehen. Er musste verschwinden, und zwar sofort.
    Blueskin ging zur Dachluke und nahm den krummen Nagel vom Boden, mit dem er vorhin vergeblich versucht hatte, das Schloss zu entriegeln. Dann griff er nach dem alten Hammer, der nach wie vor zwischen den Dachziegeln lag, und ging zur Westseite, wo der zweite Wächter missgelaunt der Dinge harrte. Blueskin holte weit aus und warf den Hammer in hohem Bogen von sich. Mit einem lauten Knall landete der Hammer direkt vor der Westmauer auf dem gepflasterten Hof und riss den Wächter aus seiner Schläfrigkeit.
    »Oi, Seamus!«, rief der Wächter Bernie. »Komm schnell!«
    Der andere Wächter hatte den Krach ebenfalls gehört und eilte zu seinem Kollegen.
    Blueskin stand derweil an der Giebelöffnung, ließ den Mann vorbeihasten, kletterte wie eine Katze auf dem Gerüst nach unten und sprang, weil das Lastenseil wegen des verstellten Flaschenzugs nicht in Reichweite war, aus dem zweiten Stock nach unten. Mit einem dumpfen Aufprall landete er im Hof und fiel auf seine verletzte Schulter. Er biss sich auf die Zähne, um nicht laut aufzuschreien, und humpelte zur Latrine, weil er sich beim Aufprall den rechten Fuß verstaucht hatte. Mit dem krummen Nagel, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, öffnete er das Schnappschloss. Eine Leichtigkeit für einen geübten Einbrecher. Dann verschwand er im Abort, zog die Tür hinter sich zu, zwängte sich durch eine der Öffnungen in der Sitzbank und kroch zum Fallrohr.
    »Wie ’ne Rutschbahn«, hatte Geoff gesagt.
    Wohl wahr, dachte Blueskin, als er mit den Füßen voran die Abwasserrinne hinuntersauste und schließlich mit einem lauten Platschen und begleitet vom panischen Fiepen der Ratten im Walbrook landete.

9

    Alles war aus dem Lot. Alles aus dem Ruder gelaufen. Jack – ein Judas! Blueskin konnte und wollte es nicht fassen. Bess musste sich irren oder die Unwahrheit sagen. Man durfte ihr nicht trauen! Sie war eine notorische Lügnerin, eine Verräterin, eine käufliche Hure. Doch obwohl er Bess für ein Miststück hielt, glaubte Blueskin ihr. Gegen seinen Willen. Denn sie hatte keinen Grund zu lügen, sie zog keinen Nutzen daraus. Und überdies schien es ihr völlig egal zu sein, ob er ihr glaubte oder nicht.
    Was aber folgte daraus? Was war nun zu tun? Was blieb ihm noch zu tun?
    Blueskin war ein toter Mann. Nicht weil er für tot und begraben gehalten wurde, sondern weil sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Wenn Jack und Mr. Wild gemeinsame Sache machten, dann hatte Blueskin verloren. Zusammen mit Jack hätte er dem Generaldiebesfänger womöglich trotzen können, das hatte er zumindest gehofft, und nur deshalb war er Mr. Wild in den Rücken gefallen. Wegen Jack Sheppard. Doch das war nun alles hinfällig. Er war auf sich allein gestellt, es gab niemanden mehr, dem er vertrauen oder sich anschließen konnte, denn sie alle fraßen Jack aus der Hand. Oder standen unter Mr. Wilds Knute. Blueskin war selbst kein Anführer, kein Bandenkopf, kein Räuberhauptmann. Und er war andererseits auch kein Einzelkämpfer. Das wusste er nur zu gut. Er war ein treuer Kumpan, die linke Hand. Er brauchte jemanden, der die Richtung vorgab und ihm sagte, was zu tun war, und dem er dies mit Zuverlässigkeit und Rücksichtslosigkeit zurückzahlen konnte.
    Ja, Blueskin hatte ausgespielt. Zwar galt er immer noch als tot, und Jack hatte keine Ahnung, dass Blueskin die Wahrheit über ihn kannte, doch das verschaffte ihm allenfalls eine kurze Atempause. Es blieb ihm nur die Flucht aus London oder der Untergang. Was hielt ihn

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