Gegen alle Zeit
vierfüßigen Ständer und unterschied sich merklich von den anderen beiden Instrumenten. Es war aus einem einzigen, sehr massiven Holzstück gefertigt und wirkte viel plumper und einfacher als die Oboen. Auch waren die Grifflöcher größer, und das Instrument endete unten in einem großen Schalltrichter.
»Ist das eine Oboe?«, wunderte sich Henry.
»Nein, eine Schalmei«, antwortete Mr. Gay und reichte ihm das Instrument.
»Wird darauf heute noch gespielt?«, fragte Henry, der Schalmeien nur von Mittelaltermärkten und Gauklerfesten kannte.
»Nur bei Trink- und Volksliedern«, sagte der Dichter. »Ich wusste gar nicht, dass Mr. Niemeyer solch profane Musik praktizierte. Sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich.«
Henry untersuchte die Schalmei und schaute durch die großen Grifflöcher, doch dahinter war alles schwarz. Wenn in dem Rohr ein Brief gesteckt hätte, hätte man ihn eigentlich sehen müssen. Henry schaute dennoch in den Schalltrichter und fingerte darin herum. Wieder sagte er: »Nichts.«
Mit einem enttäuschten Seufzer setzte er die Schalmei an die Lippen und blies hinein. Kein Ton kam heraus.
»Gibt’s eine bestimmte Technik?«, fragte Henry.
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Mr. Gay, während er ein Stehpult untersuchte und den Deckel anhob. »Einfach blasen. Wie bei einer Flöte.«
Erneut blies Henry, und erneut kam kein Laut aus der Schalmei. Nicht einmal ein Quäken oder Quietschen. Nichts.
»Wir sind nicht zum Spielen hier, Captain«, gab Mr. Gay zu bedenken.
Doch Henry schaute sich erneut die Grifflöcher an und sagte: »Seltsam. Habt Ihr etwas Spitzes dabei? Einen Draht oder ein Messer?«
»Einen Gänsekiel?«, fragte Mr. Gay, holte eine Schreibfeder aus dem Innenfach des Stehpults und reichte sie herüber.
Henry stocherte mit der Federspitze in dem obersten Griffloch herum und pfiff leise durch die Zähne. »Na also«, sagte er und lächelte.
»Habt Ihr etwas gefunden?«
»Da steckt was drin, irgendwas Schwarzes und Weiches«, antwortete Henry und steckte die Feder in den Schalltrichter. »Da gibt’s einen Widerstand.«
Mr. Gay nahm einen weiteren Gänsekiel aus dem Pult, und gemeinsam fingerten sie an der Schalmei herum. Während Henry durch die Grifflöcher pikste und das schwarze Ding zur Seite schob, versuchte Mr. Gay es vom Trichter her und angelte schließlich ein Stück Samt heraus.
»Kein Brief«, sagte er enttäuscht. »Vermutlich ein Reinigungstuch.«
Henry nahm ihm die samtene Rolle aus der Hand, befühlte sie und stieß erneut einen Pfiff aus. »Von wegen!«, rief er und hatte Mühe, seine Hand ruhig zu halten, während er das Samtstück auseinanderrollte und auf ein Papier stieß. »Der Brief!«
Das Schreiben bestand aus lediglich einer Seite, auf der nur wenige handschriftliche Zeilen zu lesen waren. Ganz oben auf der Seite waren neben dem Vermerk »Streng vertraulich!« der Adressat und die Anschrift notiert:
Rt. Hon. Sir Robert Walpole
Erster Lordschatzmeister
Schatzkanzler
Vorsitzender des Unterhauses
Houses of Parliament
Palace of Westminster
Der Brief war mit folgenden Worten unterschrieben:
Euer sehr ergebener Diener
Jonathan Wild
Generaldiebesfänger von Großbritannien und Irland
Henry überflog die wenigen, aber äußerst blumig und ehrerbietig formulierten Worte und las, dass Mr. Wild den Politiker um ein Treffen ersuchte, um mit ihm »eine höchst delikate und das Schicksal des allseits geliebten Königs betreffende Angelegenheit« zu besprechen. Es wurden keine Namen genannt, und auch der konkrete Anlass des gewünschten Treffens wurde nicht ausdrücklich erwähnt.
»Das ist alles?«, wunderte sich Henry.
Mr. Gay, der den Brief ebenfalls gelesen hatte, deutete auf das Datum oben rechts in der Ecke: »Dezember 1721.« Er nickte und sagte: »In diesem Monat wurde Bischof Atterbury verhaftet und kurz darauf in den Tower gesteckt.«
»Wenn Mr. Wild in die Verschwörung eingeweiht war und sich mit dem Premierminister …«
»Mit dem was ?«, unterbrach ihn Mr. Gay.
»Mit Sir Robert«, verbesserte sich Henry, »getroffen hat, dann liegt es nahe, was der Grund dieses Treffens war. Und den Jakobiten dürfte es auch nicht schwerfallen, eins und eins zusammenzuzählen.« Wieder starrte er auf den Brief in seiner Hand und murmelte nachdenklich: »Fragt sich nur, wie Mr. Niemeyer in den Besitz des Briefes gelangt ist.«
»Das Parlament und selbst die Regierung ist voll von jakobitischen Spionen«, meinte Mr. Gay und hob die
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