Gegen alle Zeit
geändert!
Der Meister schloss die Tür auf. Kaum hatte er die Dachstube betreten, entfuhr es ihm: »Was ist denn hier passiert?!«
In der Wohnstube, die sich über der Druckerwerkstatt befand, sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Sämtliche Schränke und Vitrinen waren von den Wänden abgerückt, und der Inhalt lag überall auf dem Boden herum: Trinkbecher, Teller, Gläser, Tücher, Besteck und Essensreste, die bereits zu schimmeln begannen und einen äußerst unangenehmen Geruch absonderten. Selbst der eiserne Ofen und das kleine Ofenrohr, das einst zum Erkerfenster hinausgeführt hatte, waren in Einzelteile zerlegt. Entsprechend rußig und verdreckt waren der Boden und die Möbel. Hier hatte jemand gründliche Arbeit geleistet.
»Hm«, machte Mr. Gay grinsend. »Mr. Wild scheint Eure Einrichtung nicht gefallen zu haben, Master Wilkins.«
»Das ist … da hört aber doch alles …« Der Druckermeister schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wo gibt’s denn so was?«
»Mal sehen, wie es im anderen Zimmer ausschaut«, schlug Henry vor und machte Master Wilkins Platz, der wie von der Tarantel gestochen an ihm vorbeirannte und die Tür zur hinteren Kammer aufriss. Auch hier war der Anblick ähnlich verheerend. Das ehemalige Schlaf- und Musizierzimmer des Oboisten glich einem Schlachtfeld, die Matratze und das Bettzeug waren mit Messern bearbeitet, Stroh und Stofffetzen lagen auf dem Boden, sämtliche Schubladen und Fächer waren geleert, der Inhalt war scheinbar wahllos auf den Dielen verstreut. Die Notenblätter und Bücher des Musikers hatte man auseinandergerissen, und ein Teil der Papiere stapelte sich angekokelt im Kamin.
Henrys Blick ging zur Decke, wo der abgeschnittene Strick immer noch von einem Dachbalken baumelte. Er seufzte und drehte sich einmal um die eigene Achse, dann bat er den Drucker: »Könntet Ihr uns einen Augenblick allein lassen?«
Master Wilkins rührte sich nicht vom Fleck.
»Oder habt Ihr Angst, dass wir etwas durcheinanderbringen?«, fragte Mr. Gay spöttisch. »Ich verspreche Euch, wir werden das Chaos nicht verschlimmern.«
Der Drucker schnaufte unschlüssig und schüttelte dann den Kopf. »Ich will keinen Ärger mit Mr. Wild.«
»Wer will das schon?«, entgegnete der Dichter.
Master Wilkins verließ schließlich zögernd den Raum, und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Mr. Gay an Henry: »Wo fangen wir an? Oder anders gesagt: Lohnt es sich überhaupt?« Er wies auf das Tohuwabohu und hob zweifelnd die Augenbrauen.
Henry überlegte. Er erinnerte sich an eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, die er als Jugendlicher gelesen hatte. Sie hieß Der entwendete Brief oder so ähnlich. Darin war eine ganz ähnliche Konstellation beschrieben: Ein kompromittierender Brief war einer hochrangigen Persönlichkeit gestohlen und in der Wohnung des Diebes versteckt worden. Doch bei einer Hausdurchsuchung durch die Polizei war das Schreiben nicht entdeckt worden. Erst ein spitzfindiger Detektiv hatte es schließlich in einem offenen Postkartenständer gefunden, vor aller Augen sichtbar, aber so geschickt getarnt, dass gerade die Auffälligkeit des Verstecks die Unauffindbarkeit verursacht hatte. Zwar würde diese Kurzgeschichte erst in über hundert Jahren geschrieben werden, und Albrecht Niemeyer konnte sie somit natürlich nicht gekannt haben, dennoch suchte Henry die Dachstube nach einem ähnlichen Versteck ab. Aber in dem Zimmer gab es keine Briefe, die so auffällig drapiert waren, dass sie dadurch unverdächtig erschienen.
Henry wollte Mr. Gay bereits signalisieren, dass er recht hatte und die Suche nichts bringen würde, als sein Blick an den Musikinstrumenten hängen blieb, die neben einem Schemel auf dem Boden lagen.
»Die Oboen«, sagte er.
»Wurden bereits inspiziert«, antwortete Mr. Gay kopfschüttelnd und nahm ein in mehrere Teile zerbrochenes Instrument vom Boden. Er schaute es sich an, lugte hinein und sagte: »Nichts.«
Henry hob seinerseits einen Instrumentenkoffer vom Boden auf. Darin befand sich eine Barockoboe, die aus drei Teilen zusammengefügt wurde und kaum an heutige Oboen erinnerte. Sowohl der Koffer als auch das Holzblasinstrument waren durchsucht worden, wie an dem zerschnittenen Samtfutter und den Kerben und Kratzern im Holz zu erkennen war. Auch Henry sagte ernüchtert: »Nichts.«
Mr. Gay hatte inzwischen das dritte Instrument in Augenschein genommen. Es stand senkrecht auf einem
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