Gegen alle Zeit
Achseln. »Irgendjemand wird das Schreiben aus Sir Roberts Büro geschmuggelt und weitergeleitet haben. Und als der Bischof später im Ausland war, hat Mr. Niemeyer vielleicht als Bote fungiert und das Schreiben für die eigenen Zwecke verwendet. Da er tot ist, werden wir es nie erfahren.«
»Der Verrat an den Verschwörern war der Karriere des Diebesfängers sicherlich sehr dienlich«, meinte Henry und steckte den Brief in die Außentasche seiner Joppe. »Der Lordschatzmeister und der König haben es ihm gewiss reichlich vergütet. Kein Wunder, dass er heute so machtvoll ist.«
»Doch jetzt könnte der Brief Mr. Wild das Leben kosten«, sagte Mr. Gay, nahm die Schalmei an den Mund und blies kräftig hinein. Ein schrecklich quäkender Ton erklang.
Beinahe im selben Augenblick schoss Master Wilkins zur Tür herein. »Nichts anfassen, hatte ich gesagt!«, rief er, riss dem Dichter das Instrument regelrecht aus der Hand und deutete zur Tür. »Ich muss Euch nun bitten zu gehen!«
»Habt vielen Dank, Master Wilkins«, sagte Mr. Gay und verneigte sich.
»Es war sehr tröstlich, Abschied nehmen zu können«, fügte Henry hinzu und fühlte in der Tasche nach dem Brief. »Und wir werden Euch Mr. Wild gegenüber nicht verraten.«
»Das will ich meinen!«, erwiderte der Drucker und stellte die Schalmei auf den Ständer. »Will schließlich keinen Ärger.« Und mit Blick auf Mr. Gay setzte er nach: »Bis nächste Woche.«
»So Gott will«, murmelte Mr. Gay leise und grinste.
11
Es war etwa Mittag, als sie auf die Fleet Street hinaustraten und Mr. Gay nach einer vorbeifahrenden Mietkutsche rief.
»Fahrt nur allein!«, sagte Henry und winkte dem Dichter zu. »Ich komme später nach und möchte mir vorher ein wenig die Beine vertreten.«
»Es ist weit bis Burlington House«, sagte Mr. Gay verwundert.
Henry lachte. Wenn man die Entfernungen im heutigen London zum Maßstab nahm, war der Weg von der Fleet Street zur Piccadilly ein halber Katzensprung. Gerade einmal zwei U-Bahn-Stationen. Zwar war Henry immer noch müde und erschöpft, dennoch wiederholte er: »Ich komme später!«
Mr. Gay stieg in die Kutsche und verschwand in Richtung Temple Bar.
Henry musste amüsiert daran denken, dass er gerade Zeuge geworden war, wie John Gay auf die seltsame Idee gekommen war, in der Figur des Hehlers Peachum die realen Vorbilder Jonathan Wild und Robert Walpole zu vermengen. Er, Captain Macheath, hatte den Dichter auf die Fährte gebracht und zwei Personen miteinander in Verbindung gebracht, die eigentlich keinerlei Berührungspunkte hatten. Sah man einmal von dem verräterischen Brief ab.
Doch wie wollte Henry nun weiter mit dem Schreiben in seiner Tasche vorgehen? Was genau war sein Plan? Wie wollte er den Brief gegen Bess tauschen, ohne selbst wieder in die Fänge des Gauners zu geraten? Und wo sollte dieser Tausch stattfinden?
Er ging, in Gedanken versunken, auf der lärmenden Fleet Street nach Westen, durchschritt die Temple Bar und bog an der Kirche von St. Clement Danes in die Drury Lane ab. Das tat er ohne jede Absicht und beinahe aus Gewohnheit. Es war der Weg, den er in den letzten Tagen so oft gegangen war. Erst als er die schmale und dunkle Passage erreicht hatte, die zum Theatre Royal führte, blieb er plötzlich stehen und schaute sich um. Es war keine gute Idee gewesen, ausgerechnet hierherzukommen, denn in der Drury Lane wimmelte es vermutlich von Mr. Wilds Spitzeln, und nach seiner Flucht aus Bedlam stand Henry gewiss an oberster Stelle auf der Fahndungsliste des Diebesfängers.
»Oi, Captain!«, wurde er denn auch sogleich gerufen. »Ihr seht aber mitgenommen aus. Habt Ihr schlecht geschlafen?«
Als er sich umwandte, sah er den kleinen Straßenjungen im Rinnstein sitzen, mit gekreuzten Beinen und beinahe an derselben Stelle, an der er ihn vor einer Woche zum ersten Mal gesehen hatte.
»Na, hat die Fleischpastete geschmeckt, die du mir gestohlen hast?«, erwiderte Henry, ohne auf die Bemerkung des Jungen einzugehen oder sich darüber zu wundern, dass er ihn mit »Captain« angesprochen hatte.
»Hab schon bessere gegessen«, wehrte der Junge geringschätzig ab.
Henry kam plötzlich eine Idee. Er ließ sich neben dem Jungen nieder und fragte: »Wie heißt du?«
»Rodney.«
»Willst du dir etwas Geld verdienen, Rodney?«
Der Junge lachte, schüttelte den Kopf und fragte: »Wieder ’ne zweite Elisabeth? Wollte die Münze ’nem Pfandleiher verkaufen, aber der hat gesagt, es wär gar kein
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