Gegen alle Zeit
vor der Baulücke stehen, in der Blueskin Blake eben verschwunden war. »Coal Yard« war auf einem Holzschild zu lesen, doch Kohle wurde hier nirgends gelagert. Außer einer völlig verfallenen Bauruine befand sich nichts in diesem seltsam verwinkelten Hof, der von der Straße aus kaum einzusehen war und an ein Labyrinth erinnerte.
»Na, Großer«, wurde Henry von einer älteren Frau mit weiß gepudertem Gesicht angesprochen, deren schrumpelige Brüste aus dem Dekolleté herausschauten. Sie tippte mit ihrem Fächer an Henrys Schulter und fragte mit keckem Augenaufschlag: »Hast du Lust auf ein Schäferstündchen?«
»Schlafen würde ich schon gern«, antwortete Henry grinsend. »Aber nicht mit dir, meine Liebe.«
»Scheißkerl!«, fluchte die Hure. »Zieh Leine!«
»Zu Befehl!«, erwiderte er und ging.
SIEBTER TEIL
DER DIEBESFÄNGER
Peachum:
What a dickens is the woman always a whimpring
about murder for? No gentleman is ever look’d upon
the worse for killing a man in his own defense;
and if business cannot be carried on without it,
what would you have a gentleman do?
Peachum:
Was, zum Teufel, winselt das Weib ständig von Mord?
Kein Gentleman wird je geringer geachtet, wenn er
einen Mann zur eigenen Verteidigung tötet; und wenn
ein Geschäft nicht ohne ihn betrieben werden kann,
was soll ein Gentleman dann tun?
John Gay, The Beggar’s Opera,
Akt I, Szene IV
1. Edgworth Bess
Bess verstand die Welt nicht mehr. Während sie in ihrer Zelle in Bedlam wie in einem Backofen schmorte und zum Nichtstun verdammt war, schien um sie herum alles ins Wanken und aus den Fugen zu geraten. Die Ereignisse überschlugen sich, die Welt stand Kopf, und Bess fühlte sich, als würde sie von einem Strudel in die Tiefe gerissen. Ohne zu wissen, wie ihr geschah.
Erst war Henry wie aus dem Nichts vom Kerkerfieber ergriffen worden, hatte im Fieberwahn nichts als blühenden Unsinn erzählt und war beinahe vor ihren Augen und in ihren Armen krepiert. Dann hatte Blueskin wie ein Dämon draußen vor dem Fenster geschwebt und bestialisch gestunken, als wäre er wie der Leibhaftige in den Schwefelsee getaucht worden. Nur wenig später war das ganze Hospital in hellem Aufruhr gewesen, ein Geschreie und Gerenne hatte durch die Gänge und über die Höfe gehallt, und niemand hatte ihr verraten wollen, was es mit dem Durcheinander auf sich hatte. Immer wieder waren Wärter und Ärzte vor ihrer Zellentür erschienen, ohne ein Wort zu sagen, als wollten sie sich lediglich überzeugen, dass sie noch an Ort und Stelle war. Als befürchteten sie, Bess könne sich in Luft auflösen.
Als sie den Wärter Bernie gefragt hatte, was es mit dem Lärmen und Laufen auf sich habe, hatte der nur geantwortet: »Er hat uns alle zum Narren gehalten!«
»Wer, Blueskin?«
»Nein, Macheath«, fauchte Bernie. »Kerkerfieber! Dass ich nicht lache!«
»Henry?«, hatte Bess erschrocken gerufen. »Was ist mit ihm?« Doch Bernie hatte nicht darauf geantwortet, sondern ihr lediglich durchs Gitter vor die Füße gespuckt und gezetert: »Zum Teufel mit euch allen!«
Am nächsten Morgen war Mr. Wild in Bedlam erschienen, so wild und wütend wie sein Name. Er hatte sie heftig beschimpft und dabei ein ums andere Mal die gleichen Fragen gestellt, auf die sie keine Antworten gewusst hatte: Was Captain Macheath vorhabe. Wo der Brief versteckt sei. Wer sonst noch davon wisse. Ob es Komplizen gebe. Was sie sich davon verspreche, weiterhin zu schweigen. Ob sie wirklich denke, sie könne ihn für dumm verkaufen. Er werde sie alle zur Strecke bringen. An den Galgen!
Aus den wüsten Tiraden des Generaldiebesfängers hatte Bess immerhin herausgehört, dass Henry in der Nacht aus Bedlam entkommen und spurlos verschwunden war. Wie ihm das trotz des Fiebers, der Fesseln und der Wärter gelungen war, konnte sie sich nicht erklären, und es hatte den Anschein, dass auch Mr. Wild in dieser Hinsicht überfragt war.
Am Nachmittag erschien Mr. Wild ein zweites Mal. Seine Laune hatte sich seit dem Morgen merklich verbessert. Er machte sogar Scherze und verkündete, womöglich sei der ganze Spuk schon bald vorbei. Bess verstand zwar nicht genau, was er mit diesem »Spuk« meinte, aber er schien guter Hoffnung zu sein, schon bald Hand an Blueskin und Henry legen zu können. Er sei den beiden auf der Fährte und werde sie stellen, einen nach dem anderen. Ja, sie säßen bereits in der Falle und wüssten nichts davon.
»Schon seltsam«, meinte er und hob die Augenbrauen.
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