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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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spitzen Schrei aus, als wäre sie einem Gespenst begegnet. Die Bande saß unter einem runden Giebelfenster an einem Tisch, auf dem eine gläserne Karaffe und verschiedene Trinkbecher standen. Außerdem befand sich ein dampfender Eintopf auf dem Tisch, dessen strenger und deftiger Geruch Henry daran erinnerte, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Auf der einen Seite des Tisches saßen Jenny, Godfrey und Blueskin, auf der anderen Seite sah Henry drei ihm unbekannte Gesichter.
    »Wen haben wir denn da?«, sagte ein Mann von etwa dreißig Jahren, der wie ein eitler Stutzer gekleidet war und eine dunkle Lockenperücke auf dem Kopf trug. Sowohl sein Hemdkragen als auch die Ärmel und das Revers des Gehrocks waren reichlich mit Seide und Spitze versehen, was seiner Kleidung etwas Weibisches gab. An seiner Seite hing ein Degen in einer hübsch ziselierten Scheide. »Der verlorene Sohn, wie ich vermute«, setzte er hinzu.
    Direkt hinter dem Mann saß eine junge Frau mit hellblonden Haaren, spitzer Nase und mürrischem Gesichtsausdruck, die sich bei der dritten Person angeschmiegt hatte, die hinter ihr auf der Bank direkt vor dem Fenster saß. Diese dritte Person war ein sehr kleiner und schmächtiger Mann mit ungleichmäßig kurz geschorenen Haaren, bleichem Gesicht und dunklen Augen. Vor ihm auf dem Tisch lagen ein schlichtes braunes Frauenkleid, ein zusammengeklappter Fächer und der auffällige Fasanenfederhut, den Poll Maggott vorhin getragen hatte. Das musste Jack Sheppard sein, und bei seinem Anblick musste Henry an Blueskins Worte vom Morgen denken: »Aber groß würde ich Jack nicht gerade nennen. Sieht man einmal von seiner großen Klappe ab.«
    Jack Sheppard war ein wahrer Hänfling, kaum mehr als fünf Fuß groß und von der Statur eines heranwachsenden Knaben. Nahm man die sanfte Stimme und das leichte Stottern hinzu, so ergab sich das Bild eines verschüchterten und zarten Jünglings, das so gar nicht zu dem großen Räuber, Bandenführer und Weiberhelden passte, zu dem er (nicht zuletzt dank der Bettleroper ) mit den Jahrhunderten gemacht worden war. Henry stellte sich diesen schmächtigen Knaben neben seiner üppigen Geliebten Bess vor, die ihn um mindestens einen Kopf überragte und von etwa doppeltem Körpervolumen war, und musste ein Schmunzeln unterdrücken.
    »Henry! Gott sei Dank!«, rief Blueskin und steckte das Messer wieder ein. »Wir dachten schon, sie hätten dich …«
    »Ich weiß«, sagte Henry und blieb neben der Tür stehen. Für alle Fälle. »Und dass ich heil aus dem Newgate-Gefängnis rausgekommen bin, hab ich bestimmt nicht euch zu verdanken.«
    »Was soll ’n das heißen?«, beschwerte sich Godfrey, vermied es aber, Henrys Blick zu begegnen. »Was können wir denn dafür, dass du plötzlich wie ein Kaninchen vor der Schlange stehst und dich nicht mehr von der Stelle rührst?«
    In der Zwischenzeit hatte sich Jack Sheppard von seiner Bank erhoben und näherte sich Henry mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und einem süffisanten Lächeln im Gesicht, das Henry nicht recht zu deuten wusste.
    »Henry Ingram, alter F-Freund«, sagte Jack und baute sich vor oder besser gesagt unter ihm auf. »L-lange nicht gesehen. Stimmt’s, Kumpel?«
    Henry schaute zu Blueskin, dessen Miene einen lauernden Ausdruck angenommen hatte. Es war klar, dass Blueskin seinem Kumpan Jack von dessen vermeintlichem Freund Henry und dem plötzlichen Auftauchen in der Rosemary Lane berichtet hatte. Und wieder ging Blueskins Hand zum Hosenbund.
    »Kann mich nicht erinnern, dich schon mal gesehen zu haben, Jack«, sagte Henry wahrheitsgemäß und kam sich in diesem Augenblick tatsächlich wie ein Schauspieler auf der Bühne vor. Er versuchte sogar, einen leichten Cockney-Slang anzunehmen, den er eigentlich hasste, obwohl er gebürtiger Londoner war. »Nein, Jack«, setzte Henry hinzu, »dass ich mich Blueskin gegenüber als dein Freund ausgegeben habe, war bloß ’ne kleine Lüge, um in euren illustren Kreis zu gelangen.«
    »Wie?!«, rief Blueskin und wollte sich auf Henry stürzen.
    Jack Sheppard hielt seinen Freund mit einer einzigen Handbewegung zurück und wandte sich erneut lächelnd an Henry: »So, so, ’ne kleine L-Lüge. Und was hast du damit bezweckt? War doch k-klar, dass du damit auffliegst. Bist du etwa lebensmüde?«
    »Ich hab viel über dich gehört, Jack«, sagte Henry und verneigte sich. Um ein Haar hätte er »gelesen« gesagt. »Und was man sich erzählt, hat mich mächtig beeindruckt.

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