Gegen alle Zeit
Deshalb hab ich Blueskin das Märchen aufgetischt. Denn ich wollte unbedingt dabei sein, wenn man dich aus dem Gefängnis herausholt.«
»Das konntest du gar nicht wissen«, meinte Jack. »N-Niemand wusste das. Nur Bess und ich. Und Blueskin.«
Ich weiß mehr über dich, als du ahnen kannst , dachte Henry. Zum Beispiel, dass du in weniger als drei Monaten als toter Mann am Galgen baumeln wirst. Genauso wie dein heißblütiger Freund Blueskin. Doch das sprach Henry natürlich nicht aus, stattdessen sagte er: »Ich weiß eine Menge über dich. Wo du geboren bist, wen du beraubt hast und mit wem, wer deine Freunde sind, wie deine Feinde heißen. Und bald wird es das ganze Königreich wissen. Das lass nur meine Sorge sein.«
»Was bist du, ein Wahrsager?«, lachte Jack, doch seinen Augen war abzulesen, dass er sich geschmeichelt fühlte und Henry sein Interesse geweckt hatte.
»Nur ein unbedeutender Schauspieler«, antwortete Henry wahrheitsgemäß und fügte eine Lüge hinzu: »Und ein Dichter. Dein Hofdichter, wenn du willst.«
»›Hofnarr‹ scheint mir besser zu p-passen«, meinte Jack und lachte erneut. »Aber glaub ja nicht, dass du deswegen N-Narrenfreiheit besitzt. Dummköpfe kann ich nämlich nicht l-leiden.« Allmählich glaubte Henry zu begreifen, worin das Besondere und Anziehende des Jack Sheppard verborgen lag. Er hatte ein ungemein gewinnendes Wesen, ein offenes und intelligentes Gesicht, ein ansteckendes Lachen und eine erstaunlich verbindliche und unverstellte Art. Ein netter Kerl! Ganz anders als sein Kumpel Blueskin.
»Genug geschwätzt!«, fuhr dieser dazwischen und hielt Henry den Dolch an die Kehle. »Einen Blueskin führt keiner hinters Licht. Der Kerl ist ein verdammter Spitzel, wenn du mich fragst, Jack.« Dann wandte er sich an die anderen: »Was sagt ihr?«
»William Page sagt: ›Ay, Sir‹«, antwortete der Stutzer mit der Perücke, und Henry brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der Mann von sich in der dritten Person sprach.
»Rück schon damit raus!«, fuhr Blueskin Henry an und drückte ihm die Klinge ins Fleisch. »Hat Jonathan Wild dich geschickt?«
Henry hatte noch nie in seinem Leben ein Messer am Hals gehabt und war kurz davor, in Panik zu geraten. Doch mit aller Konzentration, die er noch aufbieten konnte, versuchte er weiter, seine Rolle zu spielen. »Hältst du Mr. Wild wirklich für so dämlich?«, stieß er hervor. »Jack hat völlig recht: War doch klar, dass ich mit meiner Lügengeschichte auffliege. Und was nützt ein toter Spitzel?«
Wieder lächelte Jack geschmeichelt, schüttelte dann belustigt den Kopf und sagte: »Nein, du bist kein D-Dummkopf, Henry. Ganz gewiss nicht.« Anschließend klopfte er Blueskin sanft auf die Schulter, machte eine ernste Miene und sagte: »Stich ihn ab! Er ist ein Spitzel.«
Selbst Blueskin war so überrascht, dass er einen Augenblick innehielt und seinen Freund verdutzt anstarrte. Und das rettete Henry das Leben. Denn im nächsten Moment flog die Tür auf, und Edgworth Bess stand im Raum.
»Captain Macheath gehört zu mir!«, rief sie und baute sich vor Blueskin auf. »Und wehe, einer vergreift sich an ihm!«
Boulevardtheater! , schoss es Henry durch den Kopf, und er hätte sicherlich laut gelacht, wenn ihm nicht so hundeelend gewesen wäre und ihm Blueskin nicht vor Schreck die Messerspitze in den Hals gepikst hätte.
»Bess!«, riefen alle, sprangen von ihren Sitzen auf und wollten auf sie losstürzen. Doch wieder hielt Jack Sheppard sie mit einer Handbewegung zurück und fragte: »Bess, mein Schatz! W-wie bist du entkommen?« Vielleicht hatte seine Frage allzu misstrauisch und zweifelnd geklungen, deshalb beeilte er sich hinzuzufügen: »Wie schön, dass du’s geschafft hast, mein L-Liebling.« Besonders liebevoll klang es allerdings nicht.
»Ohne den da säße ich immer noch hinter Gittern«, sagte Bess und deutete auf Henry, der sich den blutenden Hals hielt und sich einige Schritte von Blueskin entfernt hatte. »Captain Macheath war der Einzige, der mir zu Hilfe kam. Alle anderen haben den Schwanz eingekniffen und sich verdrückt.«
»Captain Macheath?«, knurrte William Page und zupfte an den Locken seiner Perücke. »Der Mann heißt Henry Ingram und ist einer von Wilds Spitzeln.«
»Unsinn! Er gehört zu mir«, wiederholte Bess und reichte Henry ein Tuch, damit er sich den blutenden Hals verbinden konnte. »Wenn ihr ihn umlegen wollt, müsst ihr erst mich abstechen.«
»S-sachte, sachte«, sagte Jack und hob
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