Gegen alle Zeit
Brusttasche seines Kittels, baute die Speicherkarte ein, schaltete das Gerät ein und fragte: »Soll ich die Daten importieren?«
»Nein, nicht nötig«, antwortete Henry. »Es reicht, wenn Sie sich die Dateien im Foto-Ordner auf der Karte anschauen. Eigentlich nur das letzte Foto.«
Mr. Bramble nickte, tippte auf dem Handy herum, zog die Stirn kraus, nickte erneut und sagte: »Unscharf.«
Er reichte Dr. Featherstone das Telefon. Der sagte: »Und unterbelichtet.« Dann gab er Henry das Gerät.
Beinahe wäre Henry das Handy aus der Hand gefallen, so aufgeregt war er. Und als er schließlich das Display vor Augen hatte, stellte er ernüchtert fest, dass die Ärzte recht hatten: unscharf und völlig unterbelichtet. Auf dem winzigen Bildchen war etwas Helles vor dunklem Hintergrund zu sehen. Mit etwas Fantasie und viel gutem Willen konnte man eine Frau mit rundem Gesicht und üppigem Dekolleté erkennen, doch die Gesichtszüge oder sonstige Details waren kaum auszumachen. Ja, man konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, dass es überhaupt eine Frau war. Im Little Stanmore Inn war es dunkel gewesen, und er hatte mit Bess in einer Nische gesessen, hinter einem Wandschirm und weit weg von den Fenstern.
»Das ist Edgworth Bess«, murmelte Henry, dessen Enttäuschung schlagartig einer seltsamen Euphorie wich. Zwar würde er mit diesem Schattenriss niemanden davon überzeugen, dass er nicht geträumt, sondern alles wahrhaftig erlebt hatte, aber darauf kam es auch gar nicht an. Er wollte niemanden überzeugen, die anderen interessierten ihn nicht. Dieses Foto bewies ihm , dass er mit Bess in Little Stanmore gewesen war. Dass sie kein Hirngespinst war.
Denn dieses Foto hätte gar nicht existieren dürfen!
»Das Bild habe ich vor dreihundert Jahren gemacht«, sagte Henry wie zu sich selbst. »Verrückt, oder?«
Dr. Featherstone schaute besorgt drein und schwieg.
»Darf ich mal?«, sagte Mr. Bramble und nahm das Handy an sich. Er tippte erneut auf der Tastatur herum, schüttelte dann den Kopf und sagte: » Sie haben dieses Bild überhaupt nicht gemacht.«
»Warum?«
»Das Erstellungsdatum«, antwortete der Arzt und deutete mit dem Finger auf den Touchscreen. »Vor nicht mal einer Woche. Als dieses Foto aufgenommen wurde, haben Sie im Koma gelegen. Hier in diesem Zimmer. Und Sie waren gewiss nicht in der Lage, irgendwen oder irgendwas zu fotografieren.«
»Ja«, sagte Henry. »Ich weiß.« Und er lächelte, als wäre ihm das ein Trost.
EPILOG
DIE BETTLEROPER
Beggar:
Macheath is to be hang’d; and for the other personages of the drama, the audience must have suppos’d they were all hang’d or transported.
Player:
Why then friend, this is a downright deep tragedy.
The catastrophe is manifestly wrong, for an opera must end happily.
Bettler:
Macheath soll gehenkt werden; und was die anderen Personen des Dramas betrifft, so muss das Publikum annehmen, sie würden alle gehenkt oder deportiert.
Schauspieler:
Nun, mein Freund, das ist eine ausgesprochen tiefe Tragödie. Die Katastrophe ist offensichtlich falsch, denn eine Oper muss immer glücklich enden.
John Gay, The Beggar’s Opera,
Akt III, Szene XVI
Jack Sheppard wartet im Newgate auf seine Hinrichtung
Stich von George White, 1728
In der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1724 gelang Jack Sheppard ein zweites Mal die Flucht aus Newgate. Und gerade dieser letzte spektakuläre Ausbruch machte »Gentleman Jack« für alle Zeiten unsterblich. Auch wenn er wenige Wochen später am Galgen von Tyburn gehängt wurde.
Wegen seiner vorherigen Ausbrüche und weil man bereits kurz nach seiner höchst sonderbaren Einlieferung Werkzeuge wie Hammer und Feilen in Jacks Zelle fand, die vermutlich von zwielichtigen Besuchern eingeschmuggelt worden waren, wurde er in die Sicherheitszelle The Castle im dritten Stock des Gefängnisses verlegt. Ihm wurden Handschellen und Fußeisen angelegt, und Letztere wurden mit einer schweren Kette und einem gewaltigen Vorhängeschloss an einer eisernen Krampe im Boden befestigt. In besagter Nacht jedoch konnte Jack die Handschellen mit einem Nagel öffnen, die Kette an der schwächsten Stelle sprengen und sich, trotz der Fußeisen, im Kamin nach oben zwängen, wo ihm der Weg durch eine Eisenstange versperrt wurde. Es gelang ihm, die Stange aus dem Mauerwerk zu reißen und mit ihrer Hilfe die Wand zum sogenannten Red Room zu durchbrechen, einer weiteren Sicherheitszelle, die sich direkt über dem Castle befand. Dort hatten
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