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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Revers seines blauen Ärztekittels. »Auf der Bühne eines Theaters im East End. Ihre Freundin Sarah hat uns davon berichtet.«
    »Nein«, beharrte Henry. »Ich war da, ich habe es erlebt. Es war so … real.«
    »Sie haben acht Tage im Koma gelegen«, wiederholte Dr. Featherstone, dem das Lächeln regelrecht eingemeißelt schien. Er breitete wie ein Messias die Hände aus und erklärte: »Das hier ist die Realität. Dieses Bett, dieses Zimmer, dieses Krankenhaus. Was Ihr Hirn in dieser Zeit erlebt oder Ihnen vorgegaukelt hat, vermag ich nicht zu sagen.«
    »Das kann doch nicht wahr …« Henry stutzte plötzlich und begriff erst jetzt, was Mr. Bramble gesagt hatte. Er fragte: »Sarah? War sie hier?«
    »Jeden Tag«, bestätigte Mr. Bramble. »Sie hat sich Sorgen gemacht.«
    »Sorgen?« Henry lachte bitter und schloss die Augen. »Um wen?«
    Weitere Tests und Untersuchungen wurden vorgenommen. CT, MRT, EEG und sonstige klinisch-neurologische Untersuchungen mit unverständlichen Kürzeln, die Henry noch nie gehört hatte. Die Ergebnisse waren allesamt positiv und stimmten die Ärzte optimistisch. Dr. Featherstones günstige Prognose würde sich aller Voraussicht nach bewahrheiten.
    Henry ließ alles willenlos und beinahe abwesend wie ein Schlafwandler über sich ergehen. Nicht seine Nervenbahnen oder sein Blutkreislauf machten ihm zu schaffen, sondern sein Verstand, an dem er zunehmend zweifelte. So seltsam und widersinnig es auch erscheinen mochte, jetzt, da er eine logische und sozusagen wissenschaftliche Erklärung für all den Irrsinn der letzten Tage erhalten hatte, wollte er sie nicht wahrhaben. Ja, er wehrte sich regelrecht dagegen, konnte die allzu simple Erklärung nicht akzeptieren. Er suchte nach Argumenten und Belegen, die seinen Aufenthalt im Jahr 1724 als Tatsache bestätigten. Als Realität. Was natürlich nicht möglich war. Und das machte ihn erst recht wahnsinnig.
    Die Ärzte hatten selbstverständlich recht. Während seiner Bewusstlosigkeit war er in eine Welt gereist, die er so gut kannte, weil er während seiner Recherchen oft und lange in sie eingetaucht war. Er hatte sich eben gut auf seine Rolle vorbereitet, hatte sich in Zeit, Land und Personen eingearbeitet.
    Die meisten Orte, die er während der acht Tage besucht hatte, existierten nicht mehr in der damaligen Form. Bedlam, Newgate, Burlington House, Theatre Royal, New Theatre, St. Botolph – keines der Gebäude befand sich heute noch an Ort und Stelle oder im einstigen Zustand. Von den Kneipen, in denen er sich herumgetrieben hatte, ganz zu schweigen. Dass er sie bis ins Detail beschreiben konnte, bewies also rein gar nichts, denn es ließ sich keine Gegenprobe vornehmen. Andere Gebäude wie der Tower, die Kathedrale von St. Paul oder die Kirche von St. Katherine Cree hatten ihr Aussehen seit damals nicht verändert und schieden somit als Beweismittel ebenfalls aus.
    Dann aber fiel ihm etwas ein, und er bat Duncan, den Lehrling im Blaukittel, der Mr. Bramble im 18. Jahrhundert beim Aderlass assistiert hatte und der im wahren Leben Krankenpfleger im Barts war, im Internet für ihn zu recherchieren und ein bestimmtes Bild auszudrucken. Es gab nämlich ein einziges Gebäude, das er im Jahr 1724 gesehen hatte und das er nicht bereits aus dem 21. Jahrhundert aus eigener Anschauung kannte: St. Lawrence Whitchurch in Little Stanmore. Die kleine Kirche in der Nähe von Edgware, auf deren Friedhof er mit John Arbuthnot gesprochen hatte. Als Duncan, ein netter und hilfsbereiter Kerl, der von Henrys eigentlichen Absichten keine Ahnung hatte, eine passable Bilddatei gefunden und ausgedruckt hatte, bat Henry ihn, ihm das Foto nicht zu zeigen, sondern sich Henrys Beschreibung anzuhören und sie mit dem Bild zu vergleichen.
    »Passt genau«, bestätigte Duncan und zog die Stirn kraus. »Und?«
    »Das beweist, dass ich die Kirche gesehen habe.«
    Duncan hob die Achseln und wiederholte: »Und?«
    »Aber ich war nie in Little Stanmore oder Edgware. Nicht in der Gegenwart.«
    Duncan überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Diese Dorfkirchen sehen doch alle gleich aus, oder?« Er bat Henry um etwas Geduld und verschwand aus dem Zimmer. Nach wenigen Minuten erschien er wieder, mit weiteren Ausdrucken in der Hand. Er hielt sie Henry vor die Nase, es waren Fotos von anderen Landkirchen, und die glichen sich alle wie ein Ei dem anderen: flaches Hauptschiff, angehängter niedriger Chorraum im Osten, Rundbogenfenster auf der Südseite und

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