Gegen alle Zeit
unter einer gepuderten Perücke verstecken musste. Das Auffälligste aber waren seine schmalen und zierlichen Hände, die Elizabeth an die Hände einer Frau erinnerten. Und wenn seine Finger die Oboe bedienten, dann sah es beinahe aus, als liebkoste er eine Frau. Womöglich kam es Elizabeth auch nur so vor, weil sie sich insgeheim wünschte, diese Hände auf ihrem Körper zu spüren. Das Oboespiel des Albrecht Niemeyer erzeugte in ihr eine Wollust, die sie noch nie zuvor gespürt hatte, die ihr Angst machte und die umso verwerflicher war, weil ihr diese unkeuschen Gedanken in einem Gotteshaus kamen. Und um diese frevelhaften Gedanken zu vertreiben, sang sie umso inbrünstiger das Te Deum Laudamus .
»Laudanum?« Eine krächzende Männerstimme riss Bess aus ihren Gedanken. »Habt Ihr Schmerzen, Ma’am?«
»Hm?«, antwortete sie verwirrt und starrte einem ihr völlig unbekannten Mann ins ungewaschene und mit Pickeln übersäte Gesicht.
»Ihr habt was von Laudanum gesungen, Ma’am«, antwortete der Mann und grinste. »Ich kann Euch was besorgen, wenn Ihr wollt. Kostet Sixpence. Meine Schwester stellt’s her, nach ’nem Geheimrezept.«
Bess fuhr erschrocken zusammen. Hatte sie eben etwa auf offener Straße das Te Deum Laudamus gesungen? Sie schaute sich um und stellte erstaunt fest, dass sie direkt vor dem Haupteingang des Black Lion Inn stand. Sie wusste selbst nicht, wie sie hierhergekommen war und wie lange sie schon hier stand, doch dann fiel ihr wieder ein, wohin sie wollte und dass sie auf dem Weg nach Lincoln’s Inn zwangsläufig das Gasthaus passieren musste.
»Scher dich zum Teufel!«, knurrte sie den Mann an und schaute, als der Kerl sich grimmig knurrend verdrückt hatte, an der Fassade des Black Lion nach oben. Am Giebelfenster sah sie einen Mann, der mit dem Rücken zum Fenster stand und ausholende Bewegungen mit den Armen machte, als ruderte er in einem Boot. Im gleichen Augenblick ließ er die Arme sinken, wandte sich um und schaute auf die Straße.
»Ingram«, murmelte Bess und wusste selbst nicht, wieso sie so überrascht war. Vielleicht, weil dies der Ort war, an dem er gestern beinahe ermordet worden wäre.
Henry Ingram seinerseits lächelte und nickte ihr zu. Er deutete mit dem Zeigefinger nach unten und wiederholte, weil sie verständnislos mit den Schultern zuckte, das Zeichen mit beiden Zeigefingern. Im nächsten Moment jedoch trat ein zweiter Mann neben ihn und stieß ihn grob zur Seite. Der Anblick von Blueskins hässlicher dunkler Visage ließ Bess zusammenfahren und erschrocken den Blick abwenden. Eilig lief sie in Richtung Drury Lane davon.
6
Zu den Feldern von Lincoln’s Inn war es nur ein Katzensprung. Doch je näher sie dem weitläufigen Platz kam, desto zögerlicher und kleiner wurden ihre Schritte. Wie so oft in letzter Zeit dachte sie darüber nach, was sie eigentlich zu tun beabsichtigte. Und ihr kamen Zweifel an dem, was sie sich in Gedanken immer wieder zurechtgelegt und eingeredet hatte. Was glaubte oder hoffte sie zu erfahren? Und was würde daraus folgen? Sie wollte eine Rechnung begleichen und Gerechtigkeit erfahren! Sie wollte Rache! Aber würde diese Rache wirklich irgendetwas wiedergutmachen? Oder nur weiteres Unglück verursachen? Und wer gab ihr überhaupt das Recht, sich zu rächen?
Wie hatte Mr. Gay gesagt? Daran wart Ihr nicht ganz unbeteiligt, wenn ich mich recht entsinne. Und womöglich lag er damit nicht einmal falsch. Vielleicht sollte sie die Toten ruhen lassen. Ihre Vergangenheit konnte sie nicht mehr ändern, aber ihre Zukunft zerstören. Dann aber schalt sie sich für ihren Wankelmut und fauchte: »Meine Zukunft? Welche Zukunft soll das sein?«
Die Glocken der nahe gelegenen Kirche von St. Clement Danes schlugen zwei Mal, als Bess den Clare Market erreichte. Von hier aus sah sie bereits den großzügig angelegten Platz, der vom riesigen Newcastle House auf der Westseite und den altehrwürdigen Anwaltskammern von Lincoln’s Inn auf der Ostseite dominiert wurde. Die Portugal Street lag auf der Südseite der Fields, dort befand sich das New Theatre, von dem Mr. Gay gesprochen hatte. Das eigentliche Gebäude stand in einem Hinterhof, ganz ähnlich wie beim Theatre Royal in der Drury Lane, doch das New Theatre, das erst vor wenigen Jahren errichtet worden war, besaß an der Straße einen riesigen Torbogen aus weißem Stein, der sich über drei Stockwerke spannte und ein höchst beeindruckendes Theaterportal darstellte. Leider war das Tor durch eine
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