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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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zählte Bess lediglich sechs winzige Fenster, durch die wegen der Enge der Gasse ohnehin nicht viel Licht ins Innere gelangte.
    Bess rüttelte an der verschlossenen Bühnentür und fuhr erschrocken zurück, als die Tür im selben Augenblick von innen mit Schwung aufgestoßen wurde. Sie schlug gegen ihre Schulter und schickte sie rücklings zu Boden. Während sie sich mühsam aufrappelte und dabei den Dreck der Gosse vom Hintern wischte, eilte ein von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Mann an ihr vorbei nach Osten, in Richtung Chancery Lane. Er trug einen großen Schlapphut und starrte grimmig zu Boden, ohne dabei Notiz von Bess zu nehmen, geschweige denn, ihr aufzuhelfen. Er hielt einen Stock in der Hand, den Bess für einen Gehstock gehalten hätte, wenn der Mann nicht gerade etwas Langes und Spitzes von oben hineingeschoben hätte. Der Schwarzgekleidete war so in Eile oder in Gedanken versunken, dass er vergaß oder sich nicht darum scherte, die Bühnentür hinter sich zu schließen. Bess nutzte die Gelegenheit, betrat das Theater und schloss die Tür hinter sich.
    Es dauerte eine Weile, bis Bess sich an die Lichtverhältnisse im Inneren gewöhnt hatte. Sie stand in einem kleinen Korridor, der sich linker Hand entlang der Außenmauer hinzog und an einer hölzernen Stiege endete, die sowohl in den Keller als auch in die oberen Stockwerke führte. Gleich gegenüber der Bühnentür sah Bess eine weitere Tür, die offen stand und zu einem zweiten Korridor führte. Von diesem Korridor gingen links und rechts mehrere Türen ab, vermutlich die Garderoben der Schauspieler und Musiker. Zumindest waren an einigen Türen Namensschilder oder Buchstabenkürzel angebracht.
    Bess entschied sich für die Stiege und das obere Stockwerk, doch als sie den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, hörte sie ein leises Wimmern oder Weinen, das aus dem Untergeschoss zu kommen schien. Nach kurzem Zögern ging sie auf der Treppe nach unten, wobei sie darauf achtete, keinen Mucks von sich zu geben und ihre Schritte vorsichtig zu setzen. Die Stiege führte zu einem niedrigen Keller, an dessen hinterem Ende schwacher Lichtschein durch eine geöffnete Tür drang. Die Decke des Kellers war aus unverputztem Holz, und in dem Raum wimmelte es von Stützpfeilern und seltsamen Vorrichtungen, deren Zweck Bess nicht klar war. Einige dieser Gerätschaften bestanden aus ineinandergreifenden Zahnrädern, andere aus Seilwerk mit daran befestigten, gefüllten Säcken wie bei einem Flaschenzug, außerdem sah sie zangenartige Stellhebel und kleinere Leitern, die scheinbar sinnlos zur Decke führten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich direkt unter der Bühne befand und dass all diese Hebel, Zahnräder, Falltüren und Treppen dazu dienten, das Geschehen auf der Bühne zu unterstützen. Vor einigen Wochen erst hatte sie, in Begleitung von Colonel Charteris, ein höchst frivoles Lustspiel in einem Theater am Covent Garden gesehen und sich darüber gewundert, wie die Schauspieler es geschafft hatten, hinter irgendwelchen Dekorationen im wahrsten Sinn des Wortes im Boden zu versinken. Nun wusste sie es.
    Ein lautes Röcheln und ein darauf folgender Schmerzensschrei ließen Bess zusammenfahren. Sie stieß gegen ein kleines, mit Leinwand bezogenes Stellbrett, das mit einem lauten Knall zu Boden ging und eine dichte Staubwolke aufwirbelte. Das Röcheln und Schreien verstummte schlagartig. Und im nächsten Moment sah Bess den Schatten eines Mannes an der hinteren Tür.
    »Was wollt Ihr denn noch?«, fragte der Mann mit ausländischem Akzent und anscheinend unter Schmerzen. »Ich hab Euch alles gesagt. Mehr weiß ich nicht.« Er sog heftig die Luft ein, als müsste er einen weiteren Schrei unterdrücken, und setzte gepresst hinzu: »Bitte lasst mich leben!«
    Bess hatte sich der hinteren Tür genähert und erkannte nun, dass sie zu dem Orchestergraben zwischen Bühne und Zuschauerraum führte. Als sie den Kopf durch die Öffnung steckte und den Mann sah, der so wehleidig gesprochen hatte, stieß sie einen Schrei aus: »O mein Gott!«
    Mr. Pepusch saß auf dem Boden, die Beine gerade von sich gestreckt, und starrte Bess seinerseits verständnislos an. Sein Gesicht war blutüberströmt, vor allem die Nase war eine einzige rot triefende Masse, das Blut floss von dort über die Lippen zum Kinn und tropfte unentwegt auf Mr. Pepuschs Brust. Zunächst glaubte Bess, man hätte dem Kapellmeister das Nasenbein gebrochen, doch dann erkannte sie, dass man ihm

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