Gegen alle Zeit
hohe zweiflüglige, schmiedeeiserne Gittertür versperrt, und auch in der winzigen Pförtnerloge neben dem Tor war niemand zu sehen. Vor der Tür zum Pförtnerhäuschen hing ein Plakat, das auf ein Singspiel hinwies, das am Abend aufgeführt wurde. Es hieß Die Tragikomödie der Dafne . Auf dem Plakat waren einige Namen aufgelistet, und unter diesen fand Bess zwei deutsche: Heinrich Schütz, so hieß der Komponist, und Johann C. Pepusch, der Kapellmeister.
Bess lächelte triumphierend und ärgerte sich im selben Augenblick über sich selbst. Wie oft war sie in den letzten Wochen und Monaten an den Lincoln’s Inn Fields vorbeigegangen? Die Felder lagen auf dem direkten Weg zwischen dem Black Lion Inn in der Drury Lane und der Cross Keys Tavern in Little Britain. Vermutlich hatte sie Dutzende Male auf die Werbeschilder des Theaters geschaut, ohne den Text genauer in Augenschein zu nehmen. Zwar machte es ihr ein wenig Mühe, die einzelnen Buchstaben zu Worten zu formen, aber sie war des Lesens und Schreibens zumindest grundsätzlich fähig und hätte schon oft über den Namen Pepusch stolpern müssen. Wie dumm von ihr!
Sie wollte sich bereits wieder abwenden, um am Abend zurückzukehren, wenn die Pforten des Theaters für Besucher geöffnet waren, als sie einen alten Bettler bemerkte, der vor dem schmiedeeisernen Tor auf dem Boden saß und ihr die verdreckte Hand hinhielt.
»Milde Gabe für ’nen alten Krüppel?«, murmelte er und klopfte auf das Holzbein, das seinen linken Unterschenkel ersetzte.
Bess schüttelte den Kopf, hielt dann aber inne, gab dem Mann einen Farthing und fragte: »Gibt’s eigentlich einen Hintereingang zum Theater?«
»Gibt immer ’nen Hintereingang«, lachte der Alte, steckte die Münze ein und lüpfte zum Dank den Dreispitz. Er deutete mit dem schwarzen Daumen über seine Schulter und wisperte: »Portugal Row.«
»Das hier ist doch die Portugal«, wunderte sich Bess.
»Street«, antwortete der Bettler kopfschüttelnd. »Row ist hinten.« Wieder wies sein Daumen über die Schulter. »Aber ich würde jetzt nicht ins Theater gehen. Keine gute Zeit dafür.«
»Warum?«
»Keine gute Zeit«, wiederholte er statt einer Antwort und lüpfte abermals den Hut. »Ich würd’s lassen, Ma’am.«
»Probt das Orchester?«, fragte Bess.
Der Alte lachte plötzlich und verschluckte sich. »Guter Witz, Ma’am, sehr guter!« Er rang nach Luft, räusperte sich, spuckte dann auf den Boden und sagte mit todernster Miene: »Keine gute Zeit! Hölle und Wut! Jawohl, Hölle und Wut. Mehr sag ich nicht.« Und wieder lachte er lauthals.
Bess bedachte den Bettler, dessen Verstand offensichtlich angegriffen war, mit einem missfälligen Kopfschütteln und wandte sich ab. »Das werden wir ja sehen«, murmelte sie und ging davon.
Um zur Rückseite des Theaters zu gelangen, musste sie zunächst zurück zum Clare Market und von dort in eine winzige Gasse, die auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen war. Die Portugal Row war so schmal, dass sie für breitere Kutschen unpassierbar war, und wegen der überstehenden Erker so niedrig, dass selbst Sänften nicht hindurchgepasst hätten. Es war dunkel wie in einer Höhle und stank nach Unrat und Fäkalien. Gerade als Bess die Gasse betrat, kamen ihr drei junge Männer entgegen, die längliche Koffer oder Ledertaschen trugen und sich lautstark über irgendetwas mokierten.
»So was hab ich noch nicht erlebt!«, rief der eine kopfschüttelnd und rückte seinen Federhut gerade. »Wer war denn der Kerl?«
»Eine Probe einfach so abzusagen«, pflichtete ihm der Zweite bei. Er klopfte auf seinen Geigenkasten und setzte hinzu: »Und ganz ohne Begründung. Habt ihr das bleiche Gesicht des Maestros gesehen?«
»Ich geh ins Dark Horse«, meinte der Dritte, der den größten Instrumentenkoffer trug und unter seiner Last ächzte. »Kommt ihr mit?«
»Ay«, antworteten die anderen und verschwanden in Richtung Covent Garden.
Bess ging weiter und fand schließlich die Rückseite des Theaters, die sich merklich von dem imposanten Portal unterschied. Das Gebäude war aus rotem Backstein und fiel nicht nur durch seine Größe, sondern auch durch die helle, noch nicht vom Ruß geschwärzte Farbe der Steine auf. Allerdings war die Fassade so schmucklos und unansehnlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Eine schmale und erstaunlich niedrige Holztür führte, wie auf einem Schild zu lesen war, zum dahinterliegenden Bühnenraum, und auf den drei Stockwerken darüber
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