Gegen alle Zeit
hässlichen Fratze geworden, die Bess sogar im Tode noch die blau angelaufene Zunge herausstreckte.
»Zur Seite, Ma’am!«, wurde Bess aus ihren Gedanken gerissen und im selben Augenblick in den Raum geschubst. Der junge Mann, den sie vorhin vor der Druckerei gesehen hatte, zwängte sich an ihr vorbei und fragte: »Was soll ich tun, Master Wilkins?«
Während der Druckergehilfe seinem Meister zur Hand ging und die beiden Kittelträger dem Musiker die Schlinge vom Hals nahmen, wurde Bess’ Blick wie von einem Magneten von einigen Musikinstrumenten angezogen, die neben einem drehbaren Schemel auf dem Boden lagen. Es handelte sich um drei Oboen von unterschiedlicher Länge und Stärke, die erste befand sich in einem geöffneten und mit rotem Samt ausgeschlagenen Holzkästchen, die zweite lag unverpackt und in zwei Stücke zerbrochen auf den Dielen, und die dritte stand senkrecht auf einem vierbeinigen Ständer. Außerdem waren überall auf dem Boden Notenpapiere verstreut, die meisten von ihnen zerknüllt oder zerrissen. Bess ließ sich auf den Schemel fallen und nahm die beiden Teile der zerbrochenen Oboe in die Hand. Sie hielt das rohrartige Mundstück an ihre Nase und nahm den säuerlichen Geruch nach Speichel wahr. Auf diesem Instrument war vor Kurzem noch gespielt worden. Und plötzlich konnte sie sich nicht mehr gegen die Tränen wehren, die ihr regelrecht aus den Augen schossen und alles um sie herum wie mit einem Schleier bedeckten.
»Der ist hin, Master!«, hörte sie den Gehilfen sagen.
»Dabei hab ich ihn vorhin noch auf seiner Blockflöte spielen gehört«, antwortete der Meister. »Wer kann denn so was ahnen? Sich einfach so aufzuknüpfen!«
»Es ist eine Oboe«, sagte Bess, ohne ihren Blick von dem Instrument zu nehmen. »Und er hat sich nicht aufgeknüpft.«
»Na, der Heilige Geist wird’s wohl kaum gewesen sein«, meinte der Gehilfe.
Um nicht den auf dem Boden liegenden Leichnam anschauen zu müssen, blickte Bess zur Wohnungstür und erkannte, dass sich auf dem Treppenabsatz eine Traube von Schaulustigen gebildet hatte. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, legte die zerbrochene Oboe wieder auf den Boden und erhob sich. Plötzlich fuhr sie zusammen und starrte ins Treppenhaus, als hätte sie einen Geist gesehen.
»Hell and Fury!«, rief sie und deutete hinaus. »Haltet den Mann!«
Im gleichen Augenblick entstand eine Bewegung auf der Treppe, ein Mann duckte sich, sprang nach unten und stieß die auf den Stufen Stehenden mit einem Spazierstock zur Seite.
»He, was soll ’n das? Trittst mir ja auf die Füße, Kerl! Nimm doch deinen Stock runter!«, riefen die Leute und machten erschrocken Platz.
Bess wollte ihm bereits hinterher und lief zur Tür, doch auf dem Treppenabsatz versperrte ihr ein kleiner Mann mit einem silbernen Schwert den Weg. Noch bevor sie das hagere und vernarbte Gesicht des Mannes sah, wusste Bess, dass Jonathan Wild vor ihr stand und es um sie geschehen war. Direkt hinter dem »Generaldiebesfänger« baute sich der hünenhafte Quilt Arnold auf, Mr. Wilds grobschlächtiger Handlanger, der dabei gewesen war, als Mr. Wild sie vor einigen Wochen in einer Kneipe aufgespürt und betrunken gemacht hatte, um Jacks Versteck zu erfahren. Quilt Arnold war es auch gewesen, der Jack tags darauf in Mutter Blakes Gin-Shop verhaftet hatte.
»Na, so eine Überraschung, wen haben wir denn hier?«, fragte Mr. Wild mit seiner dünnen und so unangenehm schrillen Fistelstimme, die sich Bess seit ihrer letzten Begegnung regelrecht eingebrannt hatte. Er grinste und fuhr sich mit der Hand über die Narben im Gesicht, die von diversen Schuss- und Hiebverletzungen stammten und dem eigentlich unscheinbaren Mann ein wildes Aussehen gaben. »Mrs. Lyon, welche Ehre! Ich hatte Euch schon vermisst. Habt Ihr wieder einmal einen armen Mann in den Selbstmord getrieben?«
Bess hätte sich darüber wundern können, dass Mr. Wild von dem erhängten Albrecht wusste, ohne die Wohnung überhaupt betreten zu haben, doch das tat sie nicht. Nein, seitdem sie James Sykes alias »Hell and Fury« auf der Treppe gesehen hatte, wunderte sie gar nichts mehr. Zwar verstand sie nicht, was hier vorging und was Jonathan Wild mit Albrecht Niemeyer zu schaffen hatte, aber dass der Diebesfänger nicht zufällig an Ort und Stelle war, lag auf der Hand.
Mr. Wild machte Quilt Arnold mit der Hand ein Zeichen, und der Riese packte Bess an der Schulter und riss sie wie ein Ringkämpfer an sich.
»Au!«, schrie Bess.
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