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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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»Du tust mir weh, Mistkerl!«
    Hinter Arnold bemerkte Bess eine Bewegung, und als im nächsten Augenblick Henry Ingrams Gesicht über Arnolds Schulter auftauchte, gab sie ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, sich bloß nicht einzumischen. Doch Jonathan Wild und Quilt Arnold hatten Bess’ Kopfschütteln gesehen und wandten sich ruckartig um – aber Henry hatte sich bereits auf der Treppe abgewandt und war nach unten verschwunden.
    »Schaff sie weg!«, befahl Mr. Wild und steckte sein Schwert in die Scheide.
    »Chick Lane?«, wollte Quilt Arnold wissen.
    »Was sonst?«, antwortete Mr. Wild ungehalten und betrat die Wohnung. »Dann wollen wir uns mal das Malheur anschauen.«
    Bess wurde, immer noch im Würgegriff, die Treppe hinunterbugsiert und zu einer einspännigen Kutsche geführt, die auf der Fleet Street wartete. Als Bess den Einspänner bestieg, erkannte sie auf der anderen Straßenseite Henry Ingram. Sie nickte ihm unmerklich durchs Fenster zu, und er nickte zurück. Dann setzte sich die Kutsche in Bewegung.

9

    Es gab Häuser und Gebäude, die waren einem bis ins kleinste Detail vertraut und bekannt, obwohl man sie noch nie betreten hatte. Nicht weil es ähnliche oder vergleichbare Gebäude gab, sondern eben weil sie so unvergleichlich und außergewöhnlich waren und jedermann, der darin gewesen war, geradezu darauf versessen war, allen haarklein zu verkünden, wie es darin aussah oder was es mit diesen Häusern auf sich hatte. Das Gefängnis von Newgate war solch ein Gebäude oder der Tower von London, aber auch das verschnörkelte Nonesuch House auf der London Bridge. Es gab derart viele Geschichten, Gerüchte und Beschreibungen von ihnen, dass man sich in ihnen vermutlich zurechtgefunden hätte, als hätte man einen Grundriss der Mauern oder ein farbenfrohes Gemälde der Einrichtung vor Augen.
    Ganz ähnlich erging es Bess, als sie das Haus in der Chick Lane betrat. »Wild’s House«, wie es in Londons Gaunervierteln genannt wurde, obwohl niemand einen handfesten Beweis dafür hätte erbringen können, dass Jonathan Wild tatsächlich der Eigentümer oder auch nur einer der vielen Bewohner dieses Hauses war. Eigentlich waren es zwei nebeneinanderstehende Gebäude, die mit ihren Remisen, umfriedeten Höfen und Stallungen zu einem verwirrenden Häuserkomplex zusammengefügt und zugleich durch hohe Mauern von den umliegenden Gebäuden abgeschottet worden waren. Die Chick Lane befand sich etwas nördlich von Holborn Hill und überquerte das Flüsschen Fleet, das allerdings an dieser Stelle kaum mehr als ein stinkender Graben voller Schlamm, Unrat und Fäkalien war. Wild’s House lag auf der Südseite der Straße und stieß mit seiner Westseite an den Fleet-Graben, von dem aus es einen Zugang zum Keller des Gebäudes gab. In einem der beiden Häuser an der Straße befand sich eine Taverne, in dem anderen ein unscheinbarer Krämerladen, doch diese Lokalitäten waren nichts als eine dürftige Fassade für das geheime und geheimnisvolle Reich des Jonathan Wild.
    Bess hatte viel von dem unüberschaubaren und undurchdringlichen Labyrinth gehört, das die Bewohner von Wild’s House durch nachträglich eingebaute Treppenhäuser, unsichtbare Falltüren und Schiebewände, Geheimgänge und dunkle Nischen aus den ehemals gewöhnlichen Wohnhäusern gemacht hatten. So gab es zwei unterirdische Stockwerke, die allerdings nicht miteinander verbunden und nur über verwinkelte Treppen und tunnelartige Gänge zu erreichen waren. Überhaupt war das Erdreich unter der Chick Lane wie ein Schwamm durchlöchert, und es hieß, einer dieser Tunnel führe unter dem Fleet-Graben hindurch bis zu Wilds offiziellem Büro in der Nähe von Old Bailey. Um die Verwirrung komplett zu machen, wimmelte es in dem Haus von Sackgassen und halbherzig versteckten, scheinbar nutzlosen Räumen, die nur dazu da waren, neugierige Eindringlinge aufs Glatteis zu führen und von den wirklich interessanten Kammern abzulenken, in denen flüchtige Verbrecher, entführte Personen oder gestohlenes Gut vor Entdeckung sicher waren.
    Blueskin hatte vor einigen Jahren als Taschendieb für Wild gearbeitet und war von dem »Diebesfänger« eine Zeit lang in der Chick Lane vor den Konstablern versteckt worden. Das hatte Blueskin zumindest behauptet, und weil sich seine Erzählungen mit denen deckten, die Bess von anderen Gaunern gehört hatte, glaubte sie ihm ausnahmsweise. Von Blueskin hatte sie auch zum ersten Mal von dem sogenannten »Beichtstuhl«

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