Gegen alle Zeit
und dem misstrauischen Händler unter dessen Augen etwas zu entwenden war allerdings etwas völlig anderes. Und deshalb kam Henry der Gedanke an den Covent Garden. Dort war heute Markt, zwar noch nicht in der prächtigen Markthalle, sondern unter freiem Himmel, aber schon jetzt einer der größten und wichtigsten in ganz England. Als er am Morgen zur Wohnung von Mr. Pepusch gegangen war, hatte er für den riesigen und sich langsam füllenden Marktplatz kaum einen Blick übrig gehabt und nur nach dem Three Kings Inn Ausschau gehalten. Nun aber zog es ihn zu den Marktständen, die auf der Ostseite der Kirche von St. Paul aufgebaut waren und eine Unmenge von Käufern und Händlern angezogen hatten. In der Zwischenzeit war der Markt zum Leben erwacht. Schon als Henry sich von der Themse her dem Covent Garden näherte, schlug ihm ein Lärmen entgegen, wie er es lange nicht gehört hatte. Lastkarren transportierten Waren und Güter den kurzen Weg zum Fluss hinunter und wieder zurück, Laufburschen und Dienstmägde schleppten säcke- oder eimerweise Lebensmittel durch die Gegend, Sänften und Mietkutschen drängelten sich auf den verstopften Straßen, und das misstönende Geschrei der Verkäufer erinnerte Henry an die hysterischen Börsenmakler der London Stock Exchange.
Zwar war der Covent Garden vor allem ein Markt für Obst, Gemüse und Blumen, doch auf der Ostseite gab es einen kleinen Bereich, in dem die Metzger, Bäcker, Fischhändler und Viehbauern ihre Produkte feilboten. Es war ein solches Drängeln und Schubsen vor den Marktständen, dass es selbst für einen Amateur wie Henry ein Leichtes war, etwas Essbares zu ergattern. Stets wartete er, bis der Händler in einem Verkaufsgespräch war, oder er hielt dem Verkäufer mit der einen Hand etwas hin, um den Preis zu erfragen, während er sich gleichzeitig mit der anderen Hand bediente. Und er war nicht der Einzige, der das tat. Es wimmelte von zerlumpten und verlotterten Straßenkindern, die mit flinken und scheinbar unsichtbaren Händen zugriffen. Einmal wurde Henry sogar eine Fleischpastete, die er gerade gestohlen hatte, prompt aus der Hosentasche gezogen. Und als er sich umschaute, lachte ihm ein kleiner Junge dreist ins Gesicht und rief: »Elizabeth II., dass ich nicht lache!«
Henry erkannte den kleinen Lausbuben wieder, dem er vor ein paar Tagen in der Drury Lane ein Zwanzig-Pence-Stück in die Hand gedrückt hatte, doch als er ihm die Fleischpastete wieder entreißen wollte, verschwand der Kleine hurtig in der Menge. Nur seine piepsige Stimme war noch zu hören: »Verscheißern kann ich mich alleine!«
Henry ließ dem Jungen achselzuckend die Beute und stellte zufrieden fest, dass auch seine eigenen Diebesmühen nicht ohne Ertrag geblieben waren. Er hatte ein Stück Räuchermakrele, eine Spinattasche, ein rohes Ei und zwei seltsam schrumpelige Würste erbeutet, die nach Schwefel oder Essig rochen und entfernt an Blutwurst erinnerten. Er suchte sich ein ruhiges Plätzchen und hockte sich in einen Kellerzugang am südöstlichen Ende des Platzes. Die Tür am Fuß der Treppe war mit Brettern vernagelt und wurde offensichtlich nicht mehr als Eingang benutzt. Während Henry, mit dem Rücken an die Kellertür gelehnt, sein schwer verdientes Mittagessen gierig verschlang – wobei er sich bei den Würsten die Nase zuhielt, um nicht vor Ekel würgen zu müssen –, starrte er nach oben zum Eisengeländer, an dem die Schatten der Passanten vorbeihuschten. Er dachte an den Jungen und die zwanzig Pence, und dann fiel ihm plötzlich Sarahs Ring wieder ein, den er zusammen mit dem Geldstück in der Jackentasche gefunden hatte. Er tastete danach und stellte erleichtert fest, dass er immer noch an Ort und Stelle war. Wenn es gar nicht anders ging, konnte er den Ring bei einem Pfandleiher versetzen. Schließlich handelte es sich um einen Brillantring, auch wenn der Edelstein ein wenig mickrig war.
»In Liebe Henry« – Sarah hatte ihm den Ring in jener unseligen Nacht zurückgegeben. Plötzlich erinnerte sich Henry daran, und auch andere Einzelheiten des schrecklichen Abends sah Henry auf einmal ganz klar vor sich. Er hörte Sarahs Worte: »Nimm deinen Ring und lass mich in Ruhe, Henry! Es ist aus zwischen uns!« Sie hatten im Postman’s Park gestanden, direkt gegenüber ihrer Wohnung im White Horse House, und Henry hatte wie ein Häufchen Elend gebettelt und gewinselt. Auf den Knien hatte er gehockt, auch weil er sich vor Trunkenheit kaum noch auf den Beinen
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