Gegen alle Zeit
ihm jedenfalls zunächst, doch dann erkannte er, dass sie alle zur Kreuzung von Dirty Lane und Long Acre eilten. Und im gleichen Moment stieg Henry ein Geruch in die Nase, der ihn zugleich lähmte und seine Schritte beflügelte. Es roch nach verbranntem Holz! Und als er zum Himmel schaute, sah er die schwarze Wolke, die Unheil verkündend über den Häusern schwebte. Jetzt hörte Henry auch das leise Prasseln und Knistern. Als hätte plötzlich jemand die Stummschaltung eines Lautsprechers ausgeschaltet, hörte er ringsum das Schreien und die Befehle: »Feuer! Zum Brunnen! Holt Wasser! Schnell! Kette bilden! Es brennt! Feuer!«
Er rannte zur Dirty Lane und drängte sich durch die gaffende Menge, die nicht nur ihm, sondern auch den Wasserträgern den Weg versperrte. Schon von Weitem sah er die Funken fliegen und die Flammen gen Himmel schlagen. Das winzige und schiefe Hexenhäuschen im hintersten Winkel des Yards brannte lichterloh. Dichter, schwarzer Rauch stieg wie eine mächtige Säule aus dem geborstenen Dach, Feuerzungen schlugen aus den Fenstern, der ohrenbetäubende Lärm des Feuers war ebenso unerträglich wie die Hitze, die sich auf dem ringsum geschlossenen Platz staute. Der ganze Yard war wie ein glühender Ofen.
Alles rannte hin und her, doch was Henry zunächst wie ein kopfloses Durcheinander erschien, erwies sich als durchaus sinnvoll und durchdacht. Während die einen Wasser herbeischafften und lange Ketten zum nächsten Brunnen bildeten, waren die anderen damit beschäftigt, die umliegenden Häuser zu retten, indem alles Brennbare oder Brandbeschleunigende beiseitegeräumt oder abgerissen wurde. Etliche Tiere wurden aus Ställen oder Remisen auf den Platz und von dort zum Long Acre getrieben. Die Häuser, die direkt neben dem brennenden Häuschen standen, waren nicht mehr zu retten und wurden mit Äxten, Sägen und Hämmern bearbeitet, um eine Schneise zu schlagen und das Feuer am Übergreifen auf die noch nicht betroffenen Gebäude zu hindern. Glücklicherweise war es beinahe windstill, und die Flammen und Funken schossen senkrecht nach oben.
Henry hielt Ausschau nach Hope oder Blueskin, doch in dem Chaos war kaum jemand zu erkennen. Der Rauch verdunkelte den Himmel wie bei einer Sonnenfinsternis, und alle Leute hatten rußverschmierte Gesichter und ebensolche Kleider. Vor dem Blue Bell Inn sah Henry den alten Mann, den er gestern nach Blueskin gefragt hatte, und wollte von ihm wissen, ob Hope in dem Haus gewesen sei. Doch der Alte schien ihn gar nicht zu hören, schüttelte immer nur den Kopf und brummte: »So was Dummes. Hab ich doch gesagt, dass das Wahnsinn ist. All die brennenden Kerzen im Haus. Und das bekloppte Gör mittendrin. Konnte ja nicht gut gehen. Das kommt davon!«
»War Mistress Hope im Haus, als das Feuer ausbrach?«, versuchte Henry es ein zweites Mal. »Hat jemand Hope gesehen?«
»Dummes Ding!«, knurrte der alte Mann und schüttelte den Kopf. »Fackelt uns den ganzen Yard ab. Gott bewahre uns!« Dann aber versteinerte sich seine Miene plötzlich, er schaute an Henry vorbei, deutete auf das Feuer und rief entsetzt: »Was macht denn der Kerl da? Ist der verrückt?«
Als Henry herumfuhr, sah er einen länglichen Schatten in dem brennenden Haus verschwinden. Die Menschen schrien aufgeregt: »He, bist du wahnsinnig? Komm da raus! Da ist niemand mehr drin! Bist du lebensmüde? Komm zurück!« Doch der Schatten blieb verschwunden, und eine verzweifelte Männerstimme rief: »Hope? Hope! Wo bist du, mein Mädchen?«
Ein seltsames Krachen und Knacken übertönte plötzlich alle anderen Geräusche. Im nächsten Augenblick stürzte der vordere Dachgiebel ein. Mit Getöse und unter sengendem Funkenflug schlug der Giebel auf dem Boden auf, und nur einen Wimpernschlag später folgte die Wand darunter. Das Haus sackte mit einem letzten grässlichen Aufheulen in sich zusammen und begrub alles unter sich. Ein kollektiver Aufschrei ging durch die Menge.
»Blueskin!«, entfuhr es Henry. »Verdammter Dummkopf!« Er wollte zum Haus rennen, doch eine zierliche Hand legte sich von hinten auf seine Schulter und hielt ihn zurück.
»D-du kannst nichts mehr für ihn t-tun«, sagte eine sanfte und jungenhafte Stimme. »Außer B-beten.«
»Zum Teufel mit dir, Jack!«, schrie Henry, ohne den Blick von dem fürchterlichen Schauspiel abzuwenden, das sich vor seinen Augen abspielte.
»Sachte, s-sachte, Macheath«, antwortete Jack und zog Henry am Ärmel beiseite. »Das Feuer ist nicht mein W-Werk, mein
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