Gegen alle Zeit
halten konnte. Und dann war mit einem Mal dieser verfluchte Sean Leigh aufgetaucht, mit einer überheblichen Siegermiene in seiner verschrumpelten Altherren-Visage, und die Situation war eskaliert. Wie zwei Kampfhähne waren sie aufeinander losgegangen, zuerst mit Worten, dann mit Fäusten. Bis einer auf dem Boden lag. »Du hast ihn umgebracht!« Und danach der Blackout.
Ein heiteres Lachen riss Henry aus seinen finsteren Gedanken, die sich wieder einmal festgefahren hatten und sich im Kreis zu drehen begannen. Das Lachen kam ihm bekannt vor, und als er nach oben zur Straße schaute, sah er ein silbernes Schwert durch die Gitterstäbe ragen. Henry zuckte zusammen und kroch in die Ecke. Zunächst glaubte er, das Schwert zeige auf ihn, doch dann erkannte er, dass der Schwertträger mit dem Rücken ans Geländer gelehnt stand und sich mit einem zweiten Mann unterhielt, der von Henrys Platz aus nicht zu sehen war und in diesem Augenblick abermals lachte.
»Einverstanden«, sagte der Mann mit dem Schwert, dessen dünne Fistelstimme unangenehm in Henrys Ohren schrillte. Jonathan Wild! »Aber komm nicht auf dumme Gedanken. Das würde ich dir nicht raten, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Wieder lachte der andere, freundlich und einnehmend, und dann fragte er: »Und B-Blueskin? Habt Ihr meinen R-Rat befolgt?«
»Um den kümmere ich mich schon«, piepste Mr. Wild. »Das ist längst in die Wege geleitet. Jeder hat seine schwache Stelle, selbst ein Grobian wie Blueskin. Er wird noch bitter bereuen, was er getan hat.« Das folgende Lachen klang wie das Quietschen einer rostigen Eisentür. Mit Schwung stieß sich Mr. Wild vom Geländer ab, und die beiden Männer entfernten sich.
Henry wartete eine Weile, dann stieg er vorsichtig die Treppe hinauf, bis er mit den Augen auf Straßenhöhe war. Er lugte über das Pflaster und sah, wie ein kleiner Mann in schmucker Uniform, mit silbernem Schwert an der Seite und federgeschmücktem Dreispitz auf dem Kopf, gerade in die Russel Street einbog. Neben ihm ging ein zweiter Mann, ebenso klein wie der andere. Womöglich noch kleiner. Er trug einen groben Blaukittel und eine graue Wollschürze. Wie ein Schlachter.
8
Henry war viel zu verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Er konnte nicht begreifen, was er gerade gesehen und gehört hatte. Jack Sheppard und Jonathan Wild im vertraulichen, wenn auch nicht gerade freundschaftlichen Gespräch miteinander. Wie konnte das sein? War es nicht Mr. Wild gewesen, der Jack ins Newgate-Gefängnis gebracht hatte? Der Bess betrunken und zur Verräterin gemacht hatte, um Hand an seinen ärgsten Widersacher legen zu können? Und der nach Jacks Ausbruch alles darangesetzt hatte, den flüchtigen Räuber aufzuspüren? Und nun gingen sie gemeinsam in Covent Garden spazieren und heckten etwas gegen Blueskin aus.
Plötzlich schoss es Henry glühend heiß den Rücken hinunter. Es war ihre nächtliche Aktion in Wild’s House gewesen, die den Generaldiebesfänger zum Umdenken bewegt hatte. Natürlich! So musste es sein. Wieder einmal hatte Henrys Einmischung die Geschichte verändert, hatte den Schwerpunkt verlagert und alles durcheinandergebracht. Jetzt waren es Blueskin und Macheath, die für Mr. Wild Vorrang hatten. Er wollte sich rächen, weil sie ihn in seinem eigenen Haus angegriffen und lächerlich gemacht hatten. Denn so sah er es vermutlich. Und womöglich hatte er sich für diese Rache die Dienste von Jack gesichert. Mit einem Freibrief als Gegenleistung? Oder hatte Jack etwa die ganze Zeit in Wilds Diensten gestanden, und alles war nur eine perfide Inszenierung gewesen? Ein einziges Theater?!
Henry musste Blueskin warnen. Nicht vor Mr. Wild, sondern vor Jack! Vor seinem vermeintlich besten Freund, für den er vermutlich sein Leben gegeben hätte. Doch wo sollte Henry ihn finden? »Ich wohne überall und nirgends«, hatte Blueskin gestern Abend gesagt. Und heute Morgen war er sich sicher gewesen, dass Mr. Wild ihn nicht finden würde. Doch der Diebesfänger hatte gerade etwas gesagt, das Henry nachdenklich stimmte: »Jeder hat seine schwache Stelle, selbst ein Grobian wie Blueskin.« Henry zuckte zusammen und wusste mit einem Mal, was er damit gemeint hatte. »Hope!«
Vom Covent Garden bis zur Dirty Lane waren es nur wenige Schritte, und bereits als er den Long Acre nördlich des Marktplatzes betrat, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Eine seltsame Hektik herrschte auf der Straße, die Leute liefen vor ihm weg – so schien es
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