Gegen alle Zeit
dann hinterlasst sie bei Mr. Hynd, dem Wirt des Black Lion in der Drury Lane, gleich neben dem Theater. Und haltet Euch ansonsten von der City fern, Sir. Vor allem von den Lincoln’s Inn Fields und Eurer Wohnung in Covent Garden. Ich gebe Euch Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt.« Damit verabschiedete er sich und wandte sich um.
»Einen Augenblick!«, hielt ihn Mr. Gay zurück. »Werdet Ihr Mrs. Lyon treffen?«
»Das hoffe ich«, antwortete Henry.
»Dann richtet ihr bitte aus, dass ich ihren Ratschlag befolgen und mich dem wahren Leben stellen werde.« Er kratzte sich den kahlen Schädel und setzte leise hinzu: »Und wenn sie mir als Muse dienen will, so ist sie herzlich eingeladen.«
Henry wusste zwar nicht, was damit gemeint war, und eine unbestimmte Eifersucht überkam ihn, doch er nickte nur, hob die Hand zum Abschied und ging über die Weide davon.
Als er den Schweinestall betrat, hörte er hinter sich die Stimme des Knechts: »Captain Macheath?«
»Ay?«
»War mir eine Ehre, Sir«, sagte der Alte und hielt sich das gekrümmte Kreuz. »Und grüßt den kleinen Jack von Onkel Samuel.«
»Ihr kennt Jack Sheppard?«, wunderte sich Henry.
»Seine Mutter ist meine Nichte«, antwortete der Knecht nicht ohne Stolz. »Jedenfalls so was Ähnliches wie ’ne Nichte. Die gute Mary, hab sie lange nicht in Spitalfields besucht. Ist bestimmt eine schwere Zeit für sie. Mit Jack auf der Flucht und seinem Bruder Tom im Gefängnis. Und um ihren Verstand ist es ja auch nicht so gut bestellt.«
Henry unterdrückte den Gedanken, dass bald noch weit schwerere Zeiten auf Mutter Sheppard zukommen würden. Er nickte, klopfte dem Alten auf die Schulter und sagte: »Danke für Eure Hilfe, Samuel.«
»Stets zu Diensten, Captain«, antwortete der Knecht, machte einen Bückling, soweit das sein gebogenes Rückgrat zuließ, und schloss die Stalltür.
7
Das Schöne an der Schauspielerei war, dass man in fremde Rollen schlüpfen konnte, Applaus dafür bekam und anschließend die Schminke und das Kostüm ablegte und nach Hause ging. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Rollen erschienen Henry mitunter wie kleine Fluchten, die den eigenen beschränkten Horizont erweiterten. Das Schauspiel allerdings, an dem er im Augenblick teilnahm, war von völlig anderer Art, denn es hörte nicht mehr auf und erdrückte den Schauspieler unter der Last der Rolle. Den Captain Macheath auf der Bühne zu geben hatte ungeheuren Spaß gemacht. Den Captain Macheath im London des Jahres 1724 zu mimen war einfach nur anstrengend und auslaugend. Und zugleich so widersprüchlich. Auf der einen Seite fühlte sich Henry den Menschen, denen er begegnete, um ein Vielfaches überlegen. Er wusste Dinge über das Leben und Sterben dieser Menschen, von denen sie nicht die leiseste Ahnung hatten, und er erkannte Zusammenhänge, die die betreffenden Personen überhaupt nicht durchschauten. Andererseits aber fühlte er sich immer wieder so dumm und hilflos wie ein kleines Kind. Was nützte ihm all das Wissen des 21. Jahrhunderts, wenn er mit dem ganz banalen Alltag des 18. Jahrhunderts überfordert war? Sein modernes Wissen war so nutzlos wie das Handy, das er immer noch in der Hosentasche mit sich herumtrug, denn es löste keines seiner Probleme: Henry hatte keine Wohnung, er hatte kein Geld, er hatte keine Arbeit, er hatte nichts zu essen.
Der Gedanke ans Essen ließ seinen Magen knurren. Außer dem Apfel am Morgen und einigen Schlucken bitter und faulig schmeckenden Wassers aus einer öffentlichen Pumpe hatte er noch nichts zu sich genommen. Auf dem Weg von Westminster in die City suchte er nach dem Gasthaus seines Vorfahren auf der Piccadilly, doch an der Straße wimmelte es von Kaffeehäusern und Pubs, und nirgendwo fand er den Namen Ingram auf den Schildern. Was hätte er seinem Urahn auch sagen sollen? »Werter Jeremiah Ingram, ich bin Euer Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel aus der Zukunft. Könntet Ihr mir etwas zu essen und zu trinken geben?« Undenkbar.
Nahe Charing Cross wollte Henry bei einem Bäcker eine gefüllte Teigtasche klauen, doch der Bäcker bemerkte es und vertrieb ihn, bevor Henry sein Beutestück in den Mund oder in die Tasche stecken konnte. Als Ladendieb war er noch nie besonders gut gewesen. Zwar hatte er als Jugendlicher die üblichen Kaufhausmätzchen mitgemacht und hier und da etwas mitgehen lassen, aber in einem anonymen Selbstbedienungsladen einen Schokoriegel zu klauen war keine Kunst. In zerrissenen Kleidern einen kleinen Laden zu betreten
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