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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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zweifellos eine friedliche Revision anstrebte. Immerhin blieb er bemüht und friedlich.
    FISCHER    Aber der deutschnationale Konservatismus insgesamt war weder friedlich noch bemüht. Er drängte auf Revision, wenn es sein musste, auch mit Gewalt. Und solange diese Kräfte das Sagen hatten, war nichts zu wollen. Der erfolgreiche Neustart unseres Landes war offensichtlich erst möglich nach der totalen Niederlage, keine Sekunde vorher. Leider! Das muss man in dieser Härte feststellen. Der Führer des Großdeutschen Reiches blieb der «Führer» bis zum bitteren Ende, selbst Hitlers Nero-Befehl aus dem Frühjahr 1945, der die Zerstörung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes befahl, konnte niemanden aufwecken. Nun kann man sagen, damals gab es gar nichts mehr aufzuwecken, es herrschte längst vollkommenes Chaos. Bitteschön. Chaos bis zum Schluss. Bis nichts mehr ging. Erst dann. Und aus dieser Lektion kann man lernen: Versailles war zu sanft.
    STERN    Eine interessante These. Es gibt einen französischen katholischen Historiker, Jacques Bainville, der dasselbe etwas anders gesagt hat: Für die harten Bedingungen des Friedens in Versailles ist der Frieden zu sanft. Das hat er sehr klug gesagt. Gemeint war damit, dass man, wenn man Deutschland so verletzt, viel härter hätte vorgehen sollen. Er ahnte deutsche Rache. Im Übrigen darf man den Versailler Vertrag nicht beurteilen, ohne den Vertrag von Brest-Litowsk zum Vergleich heranzuziehen, den Frieden, den die Deutschen den Russen auferlegt haben.
    FISCHER    Dies ist ein sehr wichtiger Hinweis, denn er war nicht sanfter.
    STERN    Noch viel schlimmer.
    FISCHER    Fakt ist, dass die deutsche Wiederaufrüstung in relativ kurzer Zeit möglich war. Es ist nicht gelungen, der militärischen Macht in Deutschland das Rückgrat zu brechen. Damit behielt die antidemokratische deutsche Rechte ihr wichtigstes Instrument in Händen.
    STERN    Ich zögere. Ich würde es eher so sagen: Das Militär wurde durch den Versailler Vertrag geschwächt, aber seine Sonderrolle im Staat blieb erhalten. Es fehlte auch der nationale Wille, mit dem Militarismus zu brechen. Die extremen Feinde des deutschen Militarismus, Männer wie Kurt Tucholsky und George Grosz, blieben in den Augen vieler Bürger Vaterlandsverräter. Die Reichswehr hielt sich bedeckt, aber im Kern stand sie natürlich nicht auf dem Boden der Republik.
    FISCHER    Okay, Fritz, dann lassen Sie es mich so formulieren: Das antidemokratische Denken der entscheidenden Eliten und die Macht der entscheidenden Eliten waren nicht gebrochen worden.
    STERN    Die Tragödie war doch eher, dass die «Dolchstoßlegende», also der Kampf um die Deutung der Niederlage, zu einem inneren Krieg und einer tiefen nationalen Spaltung führte. Wie hätte man den Geist der Eliten, insbesondere den Geist des deutschen Offizierkorps, nach einer solchen Niederlage brechen können?
    FISCHER    Das kann ich Ihnen sagen, genau das ist nämlich 1945 geschehen. Da war Schluss. Da gab es kein deutsches Reich mehr. Das sagt sich so leicht. Aber wenn man das Programm der frühen Nationalbewegung liest und sich die Bedeutung der Reichsgründung vergegenwärtigt, wenn man sieht, wie die deutsche Einheit langsam und mühsam aus den Befreiungskriegen des frühen 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, dann kann man die Begeisterung, mit der sich die Deutschen in das nationalistische Abenteuer stürzten, gar nicht hoch genug veranschlagen. Und dann war plötzlich alles vorbei, das Reich wurde aufgelöst …
    STERN    Preußen wurde aufgelöst, das Reich gab es schon seit 1807 nicht mehr. Aber ich verstehe, was Sie meinen.
    FISCHER    Es gab jedenfalls keinen deutschen Nationalstaat mehr, zudem Millionen von Toten, Millionen von Flüchtlingen und den Verlust von einem Drittel des Territoriums. Aus, vorbei, völliger Neuanfang. Es gab 1945 auch niemanden mehr, der Widerstand leisten konnte oder wollte. Das erinnert mich an ein groteskes Gespräch mit Condi Rice im Sommer 2003. Es ging um die Situation im Irak, und Condi Rice eröffnete mir, dass man mit dem Widerstand im Irak genau so umgehen werde, wie man 1945 mit dem deutschen Widerstand umgegangen sei. Mir fiel der Unterkiefer runter, und ich fragte, von welcher Widerstandsbewegung sie eigentlich rede. Sie meinte offenbar den Werwolf. Condi, sagte ich, 1945 gab es in Deutschland keinen Widerstand mehr, da war ein für allemal Schluss.
    STERN    Condi Rice hat die Sache mit

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