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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Ersten Weltkrieg wurden wohl von Engländern geschrieben. Aber gab es nicht den Volkstrauertag, den die Weimarer Republik zum ehrenden Gedenken für die Gefallenen des Krieges geschaffen hat? Wobei ich mich frage, ob nicht die Kriegsversehrten, die ich Ende der zwanziger Jahre und Anfang der dreißiger Jahre selbst auf der Straße gesehen habe, mehr dazu beigetragen haben, die Erinnerung an den Krieg wachzuhalten, als der Volkstrauertag.
    FISCHER    Kriegsversehrte gab es auch während meiner Kindheit überall, aber eben die des zweiten Krieges. Am Volkstrauertag musste ich nach dem Gottesdienst immer mit auf den Friedhof. Der Gefallenen des Ersten Weltkriegs gedachte da aber kaum einer. Es ging um die Toten und Vermissten des letzten Krieges, deren Fotos in fast jedem Wohnzimmer auf der Kommode standen, diese blassen jungen Männer in Wehrmachtsuniform.
    STERN    Auch deshalb würde ich es gar nicht als falsch empfinden, wenn 2014 noch einmal über den Ersten Weltkrieg diskutiert werden würde. Diese Toten gehören schließlich dazu. Am besten wäre ein Gespräch auf europäischer Ebene, das die verschiedenen nationalen Überlieferungen nebeneinanderstellt und im Sinne einer gemeinsamen europäischen Erfahrung einander anzugleichen sucht.
    FISCHER    Das hängt ein bisschen davon ab, wie sich Europa entwickelt. Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, sehr sogar! Es wäre wünschenswert, wenn es darüber zu einem europäischen Dialog käme. Allerdings ist es so, dass vor allem die jungen Leute nicht mehr viel davon wissen wollen: Hört doch auf mit diesen ewigen Geschichten vom Krieg. Wenn denen ein Politiker zu erklären versucht, dass die EU eine Sache von Krieg und Frieden ist, winken die ab. Kohl und Mitterrand beim Händchenhalten in Verdun, das wirkte schon damals auf viele eher peinlich. Aber es ist zweifellos richtig, dass 1914 die große europäische Tragödie begann, und insofern wäre 2014 ein Anlass für ganz Europa …
    STERN    Der Beginn des zweiten dreißigjährigen Krieges.
    FISCHER    Und den Deutschen vorneweg würde es gut anstehen, wenn sie dieses Datum zur kollektiven Erinnerung und Selbstvergewisserung nutzten. Das müsste dann einerseits deutlich über die erstarrten Rituale in Flandern und Nordfrankreich hinausgehen. Andererseits steht die Erinnerung an 1914/18 in Deutschland immer im Kontext von 1933/45.
    STERN    Ich stimme Ihnen in beiden Punkten zu. Man kann es auch umdrehen und sagen: Wenn man die deutsche Geschichte in den Kontext von 1914 stellt, darf man die Deutschen trotzdem nicht von der Verantwortung für Hitler freisprechen. Darin scheint mir die Herausforderung dieses Themas zu liegen. Eines der ersten Bücher über den Niedergang von Weimar stammte von Otto Braun, dem preußischen Ministerpräsidenten, der 1933 in die Schweiz emigrierte. Für ihn war Weimar aus zwei Gründen gescheitert: Versailles und Moskau. Das kann man so nicht stehen lassen. Jedenfalls würde ich das Argument zurückweisen, dass mit dem Versailler Vertrag 1919 die Weichen falsch gestellt wurden, so dass die Entwicklung in Deutschland zwangsläufig auf Hitler zulief.
    FISCHER    Wenn man die Sache konsequent zu Ende denkt, muss man dem Versailler Vertrag eher vorwerfen, dass er nicht konsequent genug war. Er hat die Macht des preußisch-deutschen Militarismus nicht wirklich gebrochen, welches fatale Konsequenzen hatte. Und im Verhältnis zu Polen akzeptierte Deutschland eigentlich niemals die Grenzziehung.
    STERN    Es gab ja auch kein Ost-Locarno.
    FISCHER    Eben. Das hätten die Deutschen auch nicht mitgetragen. Es war in allen deutschen Parteien Konsens, dass Richtung Osten das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Auch Stresemann, obwohl er Versailles schon fast hinter sich gelassen hatte, bildete da keine Ausnahme.
    STERN    Stresemann ist ein glänzendes Beispiel für alles, was möglich war und was dann doch nicht passiert ist. Nehmen Sie allein seine Entwicklung: Aus Ludendorffs jungem Mann wird ein Vernunftrepublikaner. Leider Gottes gab es nur wenige wie ihn. Einer der ersten Aufsätze, die ich geschrieben habe, ging über Stresemann und Adenauer. Ich hatte entdeckt, dass eine mögliche Kanzlerschaft Adenauers von Stresemann 1926 boykottiert worden war, weil er Adenauer für zu stark hielt. Stresemann hat die Weimarer Republik am Ende akzeptiert und war ein glänzender Außenminister. Aber selbst Stresemann drückte sich vor einer Lösung im Osten, obwohl er

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